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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Geburtstag und ewigen Vergnügen! Erst seit er dem alten John Gower in Shakespeares Perikles begegnet war, hatte er den Witz dieser Widmung verstanden, die ein unbekannter Kommilitone seines Großvaters im Jahr 1799 auf die erste Seite geschrieben hatte.
    Miertschings Tagebuch war schwerer aufzutreiben, da der Missionar in seiner Kajüte nicht nur eine umfangreiche Sammlung von Pflanzen und Naturalien angelegt, sondern sich auch drei Jahre lang mit Briefen, Predigten und einem bereits weit fortgeschrittenen Wörterbuch der Eskimosprache beschäftigt hatte. Schließlich entdeckte er das Journal doch noch und steckte es zu den Canterbury Tales in den Leinenbeutel, den er auf der bloßen Haut trug. Was er in Wynniats Koje suchte, war wieder leichter zu finden.
    Ganz zuletzt betrat er die Kajüte des Kapitäns und überflog zum letzten Mal dessen Bücherbord. Er hatte jedes dieser Bücher gelesen, wollte eins davon aber dennoch mitnehmen. Als er die Shakespeare-Ausgabe in Quarto eben herauszog, spürte er eine leichte Bewegung in dem einsamen Schiff, nur ein Zittern, ein Schlagen der Taue: Es kam Wind auf! Es wurde Zeit! Mit dem schweren Buch in der Hand ging er hinauf.
    Auf Deck hinterließ er bereits wieder Fußspuren im dünn gefallenen Schnee, die letzten, dachte er, für die Ewigkeit. Er sah das Eis in der Mercy Bay arbeiten und beschloss, Shakespeare zurückzulassen. Willkürlich aufgeschlagen legte er das Buch auf das Dach des Steuerhauses, und fast sofort begann der Wind, mit den Seiten zu spielen. Und dieses Bild war das Letzte, was er von der Investigator mitnahm.
     

121.
     
    Jaysingh glitt durch den Fluss wie eine große Schlange, von der Strömung getragen, mit wenigen starken Schlägen. Er kam erst wieder hoch, als er jenseits des großen Stegs war – zwischen Fischerbooten, Frachtkähnen, kleinen Barkassen. Er schwamm Richtung Ufer, zog sich aber schon, ehe er es erreicht hatte, mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung auf den Steg. Das Wasser perlte von seiner bronzenen Haut ab, denn er hatte sich mit Bienenwachs eingerieben, um der Kälte des Wassers so lange wie möglich standzuhalten.
    Während er sich auf sein Ziel zubewegte, zog er aus einer Lederscheide ein seltsam kurzes, fast dreieckiges Messer, dessen Schneiden er indes so hauchdünn geschliffen hatte, dass es ein im Fluss treibendes Haar zerschnitten hätte. Er hielt den rund gedrechselten Holzklotz, an dem die tödliche Klinge befestigt war, in der Faust, sodass die breiten Schneiden zwischen Ring- und Mittelfinger nur wenige Zentimeter hervorstanden. Damit konnte man niemandem tiefe Wunden zufügen, aber die großen Adern lagen ja dicht unter der Haut, und wenn man sie gründlich genug durchschnitt, würde das Leben binnen Sekunden aus seinem Feind herausspritzen. Er wusste nicht, wer sein Feind war, wie er aussah, er würde ganz einfach jeden Mann an Bord töten. Als Ersten den unvorsichtigen großen Inder, der seine langen Arme und Beine auf dem Steg reckte.
    Mukhopadhyaya war die Flussfahrt gründlich leid; den Gomati hinunter war es ja noch einigermaßen schnell vorangegangen, aber den Ganges hinauf hatte er oft den Wunsch gehabt, auszusteigen und neben den Booten herzulaufen. Er hätte etwas zu tun gehabt, und langsamer wäre man dadurch auch nicht vorangekommen. Mit einem beiläufigen Blick auf die Stadt sah er, dass ein schlanker, kräftiger Mann, der nichts als einen Dhoti trug, den Steg entlang auf ihn zukam, offenbar eine Art Fischer. Der Anwalt drehte ihm uninteressiert den Rücken zu und widmete sich wieder der Entzerrung seiner Gliedmaßen.
    »Masjid! Vorsicht!«, warnte ihn plötzlich eine laute Stimme, die ihm bekannt vorkam, ohne dass er sie im ersten Moment einordnen konnte, denn sein amerikanischer Klient hatte ihn stets nur »Mr. Mukhopadhyaya« genannt – was für einen Warnruf indes gefährlich lang war. Mukhopadhyaya drehte sich um und sah, dass der Fischer ihm seltsam nahe gekommen war, sah auch die weite Ausholbewegung seines rechten Armes. Aber was ihn wirklich überraschte, war der Digambara , der hinter dem Fischer aufgetaucht war: aschebedeckt, grell bemalt, das Gesicht von einer zottigen, schmutzigen Mähne entstellt, aber dennoch unverkennbar.
    »Mr. Gowers!«, sagte der Anwalt ebenso verblüfft über das plötzliche Auftauchen wie schockiert über die groteske Nacktheit des Amerikaners.
    Jaysingh fuhr blitzschnell herum, um mit seiner bereits erhobenen Waffe den Mann hinter sich niederzustrecken, und nur

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