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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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eines Mussoolas noch einmal auf, presste seine Hand auf die linke Augenhöhle und fühlte, wie eine zähe und warme Flüssigkeit durch seine Finger tropfte. Aus dem Auge, das ihm geblieben war, sah er, wie der Amerikaner nackt und blutend von seinen Leuten, dem langen dünnen Inder und einer großen, verschleierten Frau, aus dem Wasser gezogen wurde. Er holte noch einmal tief Luft, tauchte dann unter und ließ sich nach Norden den Fluss hinabtreiben.
     

122.
     
    Ziellos trieb das Eis des Melville Sound die eingefrorenen Schiffe hierhin und dorthin. Wirklich aufgebrochen war es in diesem Sommer 1853 nur für einen einzigen Tag. Sie hatten die Segel gesetzt und waren an diesem Tag gut vorangekommen, von Dealy bis Byam Martin Island. Es ging so gut, dass sich manche schon wieder in England sahen und hochquotige Wetten über die Reisedauer abgeschlossen wurden. Aber als sie am anderen Morgen aufs Meer sahen, hatte das Eis sie schon wieder gepackt, und als sei das offene Wasser ein bloßer Traum gewesen, stellte sich langsam die gleiche endlos gefrorene Ebene her, die sie so gut kannten. Erwachsene Männer, harte Seeleute weinten bei diesem Anblick vor Enttäuschung und Unlust wie kleine Kinder.
    Als eine weitere Überwinterung unausweichlich war, sagte McClure sich zynisch, dass man dann ja auch an Bord der Investigator hätte bleiben können. Bei klarer Überlegung und angesichts der unüberwindlichen Eismassen in der Straße, die er so verzweifelt zu erreichen gesucht hatte, wusste er aber, dass er sein tapferes Schiff so weit gesegelt hatte, wie es überhaupt nur menschenmöglich war.
    Immerhin wäre man an Bord der Investigator , ihre Versorgung durch Belchers Flotte vorausgesetzt, bequemer untergebracht gewesen. Die Notquartiere seiner Männer an Bord von Resolute und Intrepid waren dagegen nur für die Sommermonate gedacht gewesen und bestanden selbst für die Offiziere lediglich aus improvisierten, ungeheizten Kajüten aus Segeltuchleinwand. Die Crew hatte keine Hängematten mehr, sondern pro Mann nur zwei Decken, eine als »Matratze«, die zweite als Schutz gegen die Kälte. Da auch ihre Kleidung, im letzten Jahr neu ausgegeben, aber seither jeden Tag, ja jede Stunde getragen, dünn zu werden begann, froren die Leute trotz der drangvollen Enge jämmerlich. Auch die Hilfsbereitschaft der eigentlichen Schiffsbesatzungen gegenüber ihren »obdachlosen« Landsleuten nahm täglich ab.
    Damit nicht Untätigkeit eine Hölle aus diesen Gegebenheiten machte, ließ der alte Kellett sich etwas einfallen, das er »die Spiele« nannte. Auf dem Eis wurde eine fünfhundert Schritt lange Rennbahn geebnet, und täglich trat man bei Fackellicht im Laufen, Sackhüpfen, Tauziehen, Weitwerfen, Lastentragen und in Dutzenden ähnlicher Wettbewerbe gegeneinander an. Nur die Ballspiele gab man wieder auf, weil die dazu gebildeten Mannschaften rasch eine Art von Gruppenchauvinismus hervorriefen, der gefährlich werden konnte.
    Am Guy Fawkes Day, dem Gedenktag der Pulververschwörung mit seinem Scheiterhaufen und Feuerwerk, sahen sie die Sonne zum letzten Mal in diesem Jahr. Da sie fern von jedem Land waren, konnte nicht gejagt werden, und aus Sicherheitsgründen wurden die Rationen um ein Drittel gekürzt. Kellett machte auch daraus eine Art edlen Wettstreit: Da die Schiffe nur etwa eine Viertelmeile voneinander entfernt lagen, lud wechselseitig an jedem Abend die eine Schiffsmannschaft die andere ein, und beide versuchten, sich an Einfallsreichtum bezüglich der Zubereitung ihrer kargen Rationen zu überbieten.
    Damit niemand verloren gehen konnte, ließ Kellett zwischen den Schiffen auch eine Allee von Schneemännern errichten, deren Herstellung gut zwei Wochen in Anspruch nahm, weil der Schnee so trocken war. Anschließend nahm er eine Musterung dieser »Hilfstruppe« vor: Er schritt dabei unter großem Gelächter mit all seinen Offizieren eine Linie von fast dreihundertfünfzig Schneemännern ab. Er verlieh gelegentlich kleine Fetzen von Stoff als Orden, schlug den einen zum Ritter, dem anderen wegen Insubordination den Kopf ab, rügte hier, würdigte dort die militärische Haltung und machte alles in allem eine gelungene Vorstellung daraus, über die noch lange gelacht wurde.
    Bei manchen der Offiziere reichte es indes nur noch für ein säuerliches Lächeln, denn immer stärker wurden sie sich nicht nur der Sinnlosigkeit, sondern auch der Lächerlichkeit ihres arktischen Dienstes bewusst. Man segelte hier oben einen Tag, eine

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