Das blaue Siegel
verstand. Leider hatte Gowers ihn nur von hinten gesehen, aber noch während er das bedauerte, lachte er laut, schüttelte über seine eigene Dummheit den Kopf und ließ seinen Anwalt in allen besseren Hotels von Benares nach einer amerikanischen Familie fragen, Vater, Mutter, Tochter.
Die Einladung eines waschechten englischen Grafen, der, umgeben von einer malerischen Schar indischer Soldaten und Dienerinnen, in einer herrschaftlichen Suite ihres eigenen Hotels residierte, war eine Reiseerfahrung, an der die Taylors aus New York ganz einfach nicht vorbeikonnten. Als sich dann auch noch herausstellte, dass der Mann etwas von Fotografie verstand und seine Arbeiten entsprechend zu würdigen wusste, war Charles Taylor eine Weile der glücklichste Mensch auf dem ganzen Subkontinent. Er holte und zeigte dem Grafen, der im Moment eine nicht näher definierte, aber jedenfalls nicht ansteckende Erkrankung auskurierte und sie in einem fantastischen seidenen Morgenmantel empfing, persönlich seine gesammelten Werke aus den letzten drei Jahren – mit Ausnahme lediglich einiger zwar sehr guter, aber auch sehr privater Aufnahmen, die er auf der nicht einsehbaren Dachterrasse eines römischen Hotels von seiner eigenen Frau angefertigt hatte.
Mary und Daisy Taylor hatten inzwischen Gelegenheit festzustellen, dass ihr liebenswürdiger, aber auch sehr britischer Gastgeber offenbar längere Zeit in New York gelebt hatte. Seltsam eigentlich, aber auch komisch, zu komisch, dass man sich dort auf den Empfängen der Astors, Vanderbilts, Morgans nie begegnet war.
Daisy in den Highlands von Schottland, Daisy vor Nelson’s Column , dem Louvre, einigen bereits nicht mehr identifizierbaren Schlössern an der Loire, Daisy in Florenz, Rom, Neapel, Athen, Konstantinopel – der Graf konnte geradezu verfolgen, wie das Mädchen allmählich zur Frau reifte, und äußerte das in sehr galanten Worten. Von den Aufnahmen der Ghats von Benares war er so angetan, dass er spontan um einige Abzüge bat; sogar um eine Vergrößerung eines Hindu-Fanatikers, der mit herrlich finsterem, aber glücklicherweise auch starrem Blick bis zur Brust im Ganges stand.
Mitten in ihre fröhliche Teegesellschaft – gib einem Amerikaner Gelegenheit zu erzählen, wo er schon überall war, und du hast einen Freund fürs Leben gefunden, dachte Gowers – platzte immer wieder ein junger, sehr dünner, aber auch hervorragend Englisch sprechender Inder, vom Grafen als Anwalt der Rechte, in Amerika ausgebildet, vorgestellt, mit zahlreichen Telegrammen und Billets, die die Taylors endgültig davon überzeugten, mit dem Earl of Tyne einem wichtigen Mitglied des englischen Hochadels begegnet zu sein. Nur Daisy war am Ende ein wenig irritiert – aber auch ein wenig erfreut –, als der Graf ihr beim Abschied kaum merklich zuzwinkerte. Wo hatte sie das schon einmal gesehen?
John Herbert Barrington, Generalvertreter einer englischen Tuchfirma, kam am frühen Abend persönlich vorbei, um die höflichen Anfragen von John Gowers Esquire zu beantworten. Es waren die gleichen Informationen, die schon die Telegramme aus Patna enthalten hatten: Auch Khurram und Jemdanee waren von der Firma Charles Mordaunt & Company, Tank Square, Kalkutta empfohlen worden.
»In welcher Branche ist dieser Mordaunt tätig, mein lieber Barrington?«, fragte der Earl of Tyne und füllte das Glas des Handelsvertreters persönlich noch einmal auf.
»Indigo, Sir, soweit ich weiß.«
»Indigo?!« Gowers runzelte die Stirn.
»Ein blauer Farbstoff, Sir«, ergänzte Barrington, der glaubte, sein Gegenüber habe nicht ganz verstanden.
124.
Trotz aller Bequemlichkeit, die die Betten des Star of India boten, erwachte Mukhopadhyaya schweißgebadet und mehrmals pro Nacht. Die Erkenntnis, wie nahe er einer Wiedergeburt beziehungsweise den unangenehmen Voraussetzungen einer solchen gewesen war, hatte sich erst langsam, dann aber umso nachhaltiger eingestellt. Bisher war alles ein großes Abenteuer gewesen, dessen Gefahren für ihn jedoch eher theoretischer Natur geblieben waren.
Zum ersten Mal sah er, worauf er sich eingelassen hatte, und der Glanz seines Umgangs mit Königinnen wie auch das blendend hohe Honorar verblassten vor seiner Angst. Zu Mukhopadhyayas Ehre muss gesagt werden, dass er sich von dieser Angst nicht beirren ließ; er würde die Ermittlungen seines Klienten bis zum Ende und mit ganzer Kraft unterstützen, aber er fragte sich eben immer öfter, wie dieses Ende schlimmstenfalls
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