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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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aussehen könnte.
    Diese meist nächtlichen Überlegungen machten den jungen Mann immer stiller, und als Gowers ihn fragte, ob er zu einer letzten Scharade bereit sei, sagte er nur noch zögernd zu. Als sich aber herausstellte, dass der Amerikaner ihn nach Delhi zurückschicken wollte, wurde Mukhopadhyaya wieder deutlich zuversichtlicher, auch wenn er Sinn und Zweck dieses Manövers nicht ganz verstand.
    »Wissen Sie, was eine Eidechse tut, wenn sie von einem Feind angegriffen wird, der deutlich stärker ist als sie?«, fragte der Investigator.
    »Weglaufen?!«, versuchte sich der Anwalt ebenso schüchtern wie sehnsuchtsvoll an einer Antwort.
    »Richtig«, sagte Gowers. »Aber da ein stärkerer Feind meist auch schneller ist, stößt sie ihren Schwanz in die eine Richtung ab und flieht in die andere. Das erhöht ihre Chance zu entkommen um fünfzig Prozent, weil ihr Gegner nicht weiß, wem er folgen soll.«
    »Sie meinen«, erwiderte Mukhopadhyaya wieder weit weniger begeistert, »diese … diese Menschen folgen Ihnen oder mir?«
    »Ja. Falls es überhaupt noch welche versuchen. Und falls die böse Absicht, die sie steuert, überhaupt noch einmal reagieren kann.«
    »Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass dies geschieht?«
    »Umso kleiner, je schneller wir handeln.«
    Mukhopadhyaya rechnete schweigend und sagte nicht, dass ihm auch die Fünfzig-Prozent-Chance, zum zweiten Mal einem Mörder wie dem vom Panchganga-Ghat zu begegnen, noch immer bedenklich hoch erschien. Aber ehe er diese Bedenken äußern konnte, zerstreute Gowers sie.
    »Wenn Sie bei mir bleiben«, sagte er, »liegt Ihre Chance, der bösen Absicht und ihren Dienern zu begegnen, bei hundert Prozent, Mr. Mukhopadhyaya, denn es ist meine Absicht, sie aufzusuchen.«
    »Ich gehe«, sagte der Anwalt und versuchte ein tapferes Lächeln. »Obwohl ich doch gerne gewusst hätte, wen wir eigentlich jagen.«
    Gowers sagte es ihm.
     
    Die Taylors zu überreden, auf ihrem Weg nach Allahabad, Kanpur und Agra den jungen Mann als eine Art Reiseführer mitzunehmen, war wieder deutlich einfacher. Sie brannten darauf, dem Grafen einen Gefallen zu tun, hofften auf die eine oder andere Auskunft über diesen doch etwas mysteriösen Mann und fanden es auch sehr hilfreich, endlich einen kompetenten Dolmetscher ihr Eigen zu nennen. Die Fachsprache der Aufnahmetechnik und Fotochemie würde jemand, der in Amerika studiert hatte, vermutlich rasch lernen.
    Am nächsten Morgen setzte sich der gesamte Tross nach Mughal Sarai in Bewegung. Mukhopadhyaya und die Taylors bestiegen gemeinsam ein Erste-Klasse-Abteil, die Soldaten und Diener, die froh waren, in absehbarer Zeit wieder in Delhi zu sein, mussten mit der dritten Klasse vorliebnehmen. Äußerst merkwürdig fanden die Amerikaner, dass der Graf und seine ständig tief verschleierte Mätresse ebenfalls zu ihnen in den Wagen stiegen, ihn aber auf der anderen Seite rasch wieder verließen. Aber auch das – vermutlich eine Entführungsgeschichte aus Tausendundeiner Nacht – würde ihnen ihr neuer Reisebegleiter sicherlich später erklären.
    Gowers drückte seinem Anwalt mit der unverletzten Linken noch einmal die Hand, als er ausgestiegen war. Es amüsierte ihn, dass er den im Abteil stehenden jungen Mann zuletzt genau so sah wie bei ihrer ersten Begegnung: aus der Froschperspektive.
    »Ihre Frau ist bereits in Bombay?«, fragte er.
    »Ja, Sir. Wie Sie gesagt haben.«
    »Gut.«
    Er wandte sich ab und hätte nichts mehr hinzugefügt, aber Mukhopadhyaya, der es nicht gewohnt war, Bekanntschaften auch geschäftlicher Natur auf diese nüchterne Weise zu beenden, sagte noch: »Ich wünsche Ihnen viel Glück!«
    Der Investigator grinste. »Sagte die Eidechse zu ihrem Schwanz«, ergänzte er und verschwand aus Mukhopadhyayas Blickfeld.
     
    Sie gingen nicht nach Benares zurück, sondern übernachteten jenseits einer niedrigen Mauer neben den Bahngleisen. Ishrat, die den Staub der Straße nicht gewohnt war, legte ihren Kopf in Gowers’ Schoß, und dieser, eher verwirrt als entzückt von dieser Geste der Vertraulichkeit, streichelte ihr Gesicht unter dem Schleier, bis sie eingeschlafen war. Er selbst schlief nicht, weil er nicht wusste, ob sie alle Beobachter abgeschüttelt hatten.
    Bei hellem Mondlicht studierte er lange die Vergrößerung, das Gesicht des Mörders vom Panchganga-Ghat, bis es sich in graue Punkte auflöste. Gowers prägte diesen Menschen tief in sein Gedächtnis, fühlte, dass er noch lebte, aber auch, dass keine

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