Das blaue Siegel
Mahls, während der Anwalt eine halb volle Flasche reichlich abgestandenen Weins hervorzauberte und ein Glas einschenkte, das Gowers höflich, wenn auch in immer kleineren Schlucken leerte.
»Ich habe einen Auftrag für Sie«, strahlte Mukhopadhyaya, »einen gut bezahlten Auftrag!«
Gowers zuckte bei den Worten »Auftrag« und »gut bezahlt« ein wenig zusammen. Er musste wohl eine Laus übersehen haben.
17.
Romeo klatschte Julia derart auf den Hintern, dass sie in den Wanten des Fockmasts, der in der stark reduzierten kleinen Aufführung den berühmten Balkon ersetzte, hin und her schaukelte. Daraufhin zog Miss Capulet ihre Hosen hoch, enterte ab und versetzte Mr. Montague einen Faustschlag – den der farbige Charles Anderson, Vollmatrose, aber auch unbestritten Erster Liebhaber an Bord der Investigator , im ganzen Leben nicht mehr vergaß, weil sein Nasenbein dabei brach. Sekunden später wälzten sich die Liebenden in einem blutigen Zweikampf auf dem Vorderdeck, die Zuschauer schlossen Wetten mit einer Quote von 3:1 auf Romeo ab, bis der Kapitän – Des Stimm ist’s ja, die Arm aus Arm uns schreckt – dazwischenfuhr und Shakespeares tragische Helden für fünf Tage in Eisen legen ließ.
Es war der 31. Mai 1850 im endlosen Südpazifik und der erste trockene Tag seit vier Wochen. Der Sturm war so heftig gewesen, dass sämtliche Bramstengen gebrochen waren und durch Rahen ersetzt werden mussten. Entsprechend langsam ging es voran, die Enterprise hatte man seit Mitte April und der Magellanstraße nicht mehr gesehen, und zwölf Zentner Schiffszwieback waren durch die Nässe verdorben und wurden über Bord geworfen.
Shakespeare war eigentlich dafür vorgesehen, die niedergedrückte Moral zu heben, und das hatte bis zur Balkonszene auch wunderbar funktioniert. Als Anderson-Romeo inbrünstig behauptete, er sei kein Steuermann , wurde das noch mit lautem Gelächter und witzigen Bemerkungen auf Kosten seiner seemännischen Qualifikation aufgenommen. Dann aber begann Julia, sich äußerst merkwürdig zu verhalten. Aufs Stichwort Ach du verlässest mich so unbefriedigt enterte sie blitzschnell bis zum Marsstengetopp hoch und rief etwas, das der Meister aus Stratford eigentlich nicht vorgesehen hatte: »SEGEL STEUERBORD ACHTERAUS!«
Sofort war die gesamte Mannschaft auf den Beinen, denn jeder dachte an die Enterprise , auch wenn man sie eigentlich mehrere Tagereisen voraus vermutet hatte. Aber das fremde Schiff, nur ein winziger weißer Punkt auf der Kimm, kam so unglaublich schnell auf, dass es unmöglich Collinson sein konnte. Sein Schiff war zwar um einiges schneller als die Investigator , aber nicht so schnell.
»Teeklipper«, murmelte Thomas Morgan, Vollmatrose, schon nach weniger als drei Minuten, denn er war schon einmal auf einem dieser in Boston gebauten legendären Frachtsegler gefahren. Mit Vollzeug und bei halbwegs steifem Wind waren sie schneller als jede Dampflokomotive. Aber die Flying Cloud , die die plumpe kleine Investigator nun rasch einholte, war nicht nur das schnellste und größte Schiff ihrer Zeit, mit einem Großmasttopp, das fünfzig Meter über Deck lag, sie war auch wunderschön.
Kein Seemann, der die Flying Cloud unter Segeln gesehen hatte, konnte diesen Anblick je wieder vergessen. Sie flog heran wie ein Schwan, ein feines Rauschen ging ihr voraus, und sie passierte so dicht, dass sie der Investigator für einige Minuten den Wind aus den Segeln nahm – ein Spaß, den die amerikanischen Steuerleute sich besonders gern mit den Schiffen Ihrer Majestät Königin Viktorias machten. McClure ließ dennoch die Flagge dippen, wie es bei einer Begegnung in diesen eintönigen Wasserwüsten üblich war, aber die arrogante Schöne antwortete nicht.
»Mr. Kerr«, rief der Kapitän, »geben Sie ihr eins vor den Bug, damit die Brüder grüßen lernen! Aber weit genug vorhalten, sonst versenken wir sie am Ende«, fügte er noch hinzu. Der Kanoniersmaat John Kerr rannte in knapp einer Minute das einzige Geschütz an Bord aus, die kleine Kanone der Investigator donnerte los, und nur Sekunden später, als hätte der Amerikaner nichts anderes erwartet, wurden auch die Stars & Stripes gedippt. Aber damit war die freundschaftliche kleine Reiberei noch nicht beendet, denn kaum hatte die unbewaffnete Flying Cloud dem kleinen, langsamen, aber gefährlichen Gegner ihr Heckwasser gezeigt, da lachten die Briten laut auf, und der Dritte Offizier, Robert Wynniat, meldete feixend: »Sie schießen
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