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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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schlagen.
    »Tut mir leid, Chuck!«, sagte er schon nach weniger als zwei Stunden und versorgte die gebrochene Nase seines Kontrahenten, so gut es ging.
    »Kein Problem, Junge.« Der farbige Seemann grinste und streckte ihm die Hand hin. »Sie war immer schon ziemlich breit!«
     

19.
     
    Die Kinder starben in so kurzer Zeit und so großer Zahl, dass bald niemand mehr an eine natürliche Ursache glaubte. Die Leichen, die man fand, wiesen grausame Bisswunden auf, und einige waren auch angefressen, aber es war offensichtlich, dass das, was sie getötet hatte, nicht allein aus Hunger tötete. Schon die Häufigkeit der Überfälle sprach dagegen. Zuerst glaubten die Bauern an einen Tiger, der sich irgendwie in die schluchten- und wasserreiche Landschaft des Uttar Pradesh verirrt hatte.
    Ein solcher Menschenfresser war immer alt, krank oder lahm. Schnelles Wild konnte er nicht mehr jagen und wandte sich deshalb dem langsamen zu. Den Kühen, den Schafen, den Kindern. Aber aus dem gleichen Grund hätten die Jäger ihn schnell erwischen müssen, denn ein Menschenfresser konnte nicht weit wandern, und er war ganz allein. Immerhin glaubte man von Tigern zu wissen, dass sie, wie alle Katzen, aus Vergnügen töteten. Doch ein Tiger hätte auch Spuren hinterlassen müssen; Spuren, wie es sie im ganzen Uttar Pradesh nicht gab. Ein Tiger hätte sich zudem nicht nur mit Kindern begnügt. Nein, die einzigen großen Raubtiere hier waren Wölfe, und Wölfe kamen nicht so nahe an die Dörfer heran.
    Es gab keine Zeitungen in dieser Bauernwelt, dreihundertfünfzig Meilen von Delhi und mehr als ein Zeitalter vom 19. Jahrhundert entfernt. Niemand konnte lesen und schreiben. Aber als die Angst der Bauern zu groß wurde, sandten manche Dörfer eine Abordnung nach Lakhnau und baten demütig um den Schutz der Fürsten von Oudh. Die aber gab es nicht mehr, schon seit zehn Jahren nicht mehr. Niemand hatte es für nötig gehalten, den Bauern das zu sagen. Aber immerhin wurde nun der britische Gouverneur auf das Problem aufmerksam, und junge Leute aus der Stadt wurden geschickt, die in den Dörfern die bösen Nachrichten sammelten. Sie zählten und entdeckten über dreihundert Todesfälle – aber keine einzige vernünftige Erklärung.
    Der Tod kam meist nachts oder in der Dämmerung. Er kam in den Feldern, an den zahllosen Flussläufen entlang, er kam manchmal auch mitten in die Dörfer und sogar in die kleinen Hütten. Die Opfer waren stets Kinder, das älteste zwölf, das jüngste wenige Wochen alt. Die Angaben über den Mörder widersprachen sich. Manche sagten aus, ein Knurren gehört und einen großen Wolf gesehen zu haben, einen grauen Schatten in der Nacht. Andere sagten, es sei ein fliegendes Untier mit dem Kopf eines Schweins. Auch gab es das Gerücht, das Wesen könne sich auf zwei Beine erheben und gehen wie ein Mann. Die zuverlässigste Zeugin hierfür war zehn Jahre alt, und ihre Geschichte wurde bald Hunderte Meilen die Flüsse hinauf und hinunter erzählt.
     

20.
     
    Wieder keine fernöstlichen Wohlgerüche, wallenden Gewänder, perlengeschmückten Turbane. Stattdessen empfing ihn die kühle, zeremonielle Höflichkeit von Rapton, Eton und Caius, als Gowers das scharf bewachte Tor des Roten Forts von Delhi hinter sich ließ, bis zu dem Mukhopadhyaya ihn begleitet hatte. Der äußerst gepflegte indische Beamte in seinen europäischen Kleidern hatte sich mit dem erfreulich aussprechbaren Namen Abdur Ruhiman vorgestellt, saß nun hinter seinem Schreibtisch und blätterte in einem schmalen Dossier.
    »Mr. John Gowers … Sie kommen aus New York und sind Detektiv …«
    »Investigator«, unterbrach Gowers höflich. »In Amerika sagen wir: Investigator.«
    »Investigator also«, stellte Ruhiman nüchtern fest und sah dabei kurz auf. Dann konzentrierte er sich wieder auf das Dossier, aber an den Bewegungen seiner Augen erkannte Gowers, dass die Blätter bis auf wenige Sätze leer waren.
    »Sie sind uns empfohlen worden«, sagte Ruhiman dennoch, »oder besser: Sie haben sich selbst empfohlen, durch Ihre couragierte Ermittlung im Fall des unglücklichen Sir Reginald Wedderburn und ihre … eher unangenehmen Folgen …« Er musterte die noch immer etwas fragwürdige Aufmachung des Investigators.
    Gowers dachte eine Weile darüber nach, bei wem eine Ermittlung, die so sehr die Anstandsregeln der englischen Besatzungsmacht verletzt hatte, ihn empfohlen haben mochte. Dazu musste er eigentlich nur zwei Fragen beantworten: Wer wusste von

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