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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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zurück, Sir!«
    Auf dem schnellen Klipper war ein Mann auf die schmucklose Heckgalerie geklettert, hatte die Hosen heruntergelassen und zeigte H. M. S. Investigator seinen Hintern und die umliegenden Ortschaften.
    »Unvermeidlich«, murmelte der Kapitän mit einem milden Lächeln, während Johann Miertsching, der Herrnhuter Missionar, sich bekreuzigte – etwa zum tausendsten Mal seit er unter diese Wilden gefallen war.
    »Mr. Gowers«, befahl McClure in den Fockmast hinauf, »erwidern Sie das Feuer!«
     

18.
     
    John Gowers hatte auf dieser Reise sein fünfzehntes Lebensjahr begonnen, war aber noch immer Moses , der jüngste Mann an Bord, und als solchem fiel ihm traditionsgemäß bei Begrüßungs- und Verabschiedungsritualen dieser Art die Rolle des Provokateurs oder eben des Antagonisten zu. Er mochte solche Spielchen nicht besonders, war aber lange genug zur See gefahren und vor allem intelligent genug, um zu wissen, was derlei Matrosenscherze gerade auf langen Fahrten für die Moral bedeuteten. Er spielte also mit einem bemerkenswerten Sinn für die Pointen der Sache das Spiel mit.
    »Ist das ein Befehl, Sir?«, schrie er dienstbeflissen nach unten.
    »Was dachten Sie denn?«
    »Wird dieser Befehl ins Logbuch eingetragen, Sir?!« Die Männer lachten.
    »Jawohl«, antwortete McClure, »als besonders dringend! Nun machen Sie schon, ehe Sie außer Sicht sind!« Auch das sollte ein Witz sein, den aber nur wenige an Bord zu würdigen wussten. Lediglich der Missionar verstand inzwischen genug Englisch, um unter seinem Bart rot anzulaufen und sich nun auch noch für den Kapitän zu schämen.
    »Für England und St. George!«, rief der Junge vom Fockmast, raffte den billigen Tüllrock, in dem er eben noch Miss Capulet verkörpert hatte, streifte die Hosen herunter und ließ die Vereinigten Staaten von Amerika wissen, wo die Welt endet. Drüben zeigten einige begeistert geschwenkte Mützen, dass man die britische Höflichkeit wahrgenommen hatte, der Wind verschluckte viele obszöne Worte, und für entsprechende Gesten war die Entfernung zwischen den Schiffen bereits wieder zu groß.
    All das aber war nichts gegen die Begeisterung an Bord der Investigator , als Romeo in diesem Augenblick fortfuhr zu deklamieren: Was schimmert durch das Fenster dort? Es ist der Ost. Und Julia die Sonne!
    Obwohl gerade Anderson John bei der erst wenige Monate zurückliegenden Äquatortaufe hart zugesetzt hatte, wäre vielleicht dennoch nichts weiter geschehen, wenn Romeo nicht jetzt, seinen taktischen Vorteil erkennend, aufgeentert wäre und ihm einen auf dem ganzen Schiff hörbaren Schlag versetzt hätte. Damit aber war die unsichtbare moralische Linie überschritten, die die beiden Kontrahenten seit dem Überschreiten der unsichtbaren geografischen Linie von einer Prügelei getrennt hatte. Als die Investigator den Äquator zum zweiten Mal kreuzte, saßen Romeo und Julia deshalb aneinandergekettet im Kabelgatt.
    McClure hasste es, John zu bestrafen. Ehe er vor zwei Jahren ins Eis fuhr, hatten sie gemeinsam mehrere Reisen nach Westindien gemacht. Anfangs hatte er große Hoffnungen in den Jungen gesetzt, kurzfristig sogar beabsichtigt, ihn nach Eton und Sandhurst zu schicken und so wiedergutzumachen, was John Le Mesurier an ihm selbst getan hatte. Aber der Junge war … Er war kein Kind, das über die Stränge schlug oder die Regeln verletzte. Es war eher so, als würde es für ihn keine Regeln geben. Wenn auch ungewöhnlich stark für sein Alter, seine nur mittlere Größe und seine eher zierliche Gestalt, ließ sein Verstand offenbar doch zu wünschen übrig. Er trank, schlug sich und hatte in Westindien sogar schon eine kurze Gefängnisstrafe abgemacht. All das – und das war das Provozierende an John Gowers – mit einer seltsamen Leidenschaftslosigkeit, einer Ruhe, die für einen Vorgesetzten enervierend sein konnte.
    McClure war sich oft genug lächerlich vorgekommen, wenn er solche Überlegungen über das Verhalten eines elf-, zwölf-, dreizehnjährigen Schiffsjungen anstellte, der ganz offensichtlich nicht darüber nachdachte, was er tat. Aber wenn er ihn bestrafen ließ, verprügelte für Vergehen, die John Gowers wie selbstverständlich beging, dann spürte er selbst die Schläge stärker als der Junge.
    Der Kapitän weiß genau, was er will, dachte John halb wütend, halb anerkennend. Zwei Männer, die bei allem, was sie taten, ihre jeweiligen Bewegungen untereinander absprechen mussten, würden sich so bald nicht mehr

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