Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
Vom Netzwerk:
Frau. Dafür enfernte er nun doch noch den Schleier vor ihrem Gesicht und enthüllte schöne, vielleicht ein wenig zu schmale Lippen. Er wollte sie küssen, aber sie bleckte ihre angeschliffenen Zähne und hätte ihm wahrscheinlich die Zunge abgebissen, falls er es wirklich versuchte. Also tippte er ihr nur mit dem Finger auf die Nase, wie man es bei kleinen Kindern tut. Das steigerte ihre Wut zu heller Empörung.
    »Der Schleier«, zischte sie böse, »geben Sie mir sofort den Schleier zurück!«
    Aber Gowers schüttelte jetzt den Kopf. »Nicht, um dich zu demütigen«, sagte er, »sondern nur, um dein Bedürfnis, nach Hilfe zu rufen, so weit wie möglich zu reduzieren!«
    Ishrat wäre lieber gestorben, als um Hilfe zu rufen, aber eine ganze Flut leiser Flüche und Verwünschungen, wie sie selbst die Wände der Zenana noch nicht oft gehört hatten, begleitete den Investigator auf seinem Weg aus dem Zimmer und in die Stadt. Die Sonne war noch nicht untergegangen.
     

33.
     
    Der pausenlose Tag war das Ungewöhnlichste, was die meisten unter ihnen bisher erlebt hatten, denn er widersprach jeder Erfahrung, die man in den bewohnteren Teilen der Welt machen konnte. Die Sonne zog nicht mehr über sie hinweg, ging nicht auf oder unter, sondern beschrieb einen Kreis über ihren Köpfen, rollte vierundzwanzig Stunden am Horizont entlang. John war enttäuscht, dass sie keine Eisberge sahen, denn keine Eisberge, das hieß: keine Gletscher. Und keine Gletscher, das hieß: kein Land im Norden! Er hatte viele der veröffentlichten Entdeckungsberichte der letzten dreißig Jahre gelesen und vielleicht eine klarere Vorstellung davon, wo sie waren und was sie vorhatten, als die meisten anderen Männer auf dem Vorschiff.
    Gewiss, einige waren Walfänger gewesen, Grönlandfahrer, aber sie interessierten sich nicht für Küstenlinien oder Entdeckungen. Sie waren selbst beinahe Meeresbewohner, hatten mehr Zeit auf See als an Land verbracht und dachten nicht in geografischen Kategorien. Ihre Vorstellungen von Raum und Zeit bezogen sie aus ihrer Arbeit. Es gab für sie keine Stunden, nicht einmal Tage, nur den ewigen Wechsel von Wachen und Freiwachen. Keine Monate, sondern nur Jahreszeiten, bisweilen auch nur die Fangsaison und die Zeit bis zur nächsten Fangsaison. Nord und Süd, das bedeutete für sie lediglich den Unterschied zwischen warm und kalt, wobei sich die Richtungsbezeichnungen auf der jeweils anderen Erdhalbkugel änderten, also unzuverlässig waren. Wo noch der einfältigste Landmann die Idee von Orten und Wegen zwischen den Orten hatte, gab es im Leben der einfachen britischen Seeleute nur Backbord und Steuerbord, Luv und Lee, und so folgten sie trotz ihrer schier unglaublichen Mobilität doch seltsam orientierungslos ihrer Beute oder ihren Befehlen.
    John war anders. Schon auf ihrer ersten gemeinsamen Reise war McClure aufgefallen, dass der Junge lesen konnte – seltsam genug für einen Zehnjährigen, der ohne Schuhe an Bord gekommen war. Aber außer dass seine Mutter es ihm beigebracht hatte, ehe sie gestorben war, war aus John nichts Persönliches herauszuholen. Bemerkenswert waren seine Fähigkeit, noch in der Dämmerung und sogar bei Nacht unglaublich gut zu sehen, sowie sein ungewöhnlich präzises Gedächtnis. Eine Küstenlinie, die er einmal gesehen hatte, vergaß er nicht wieder, und die Canterbury Tales , lange sein einziger Besitz, konnte er praktisch auswendig.
    McClure, damals noch Erster Offizier auf diversen Westindienfahrern, förderte den Jungen, soweit das auf einem Schiff möglich war, ohne ausgesprochen ekelhaftes Gerede zu provozieren. Und soweit John es zuließ. Von seinen Fähigkeiten her wäre ein erfolgreicher Schulbesuch mehr als möglich gewesen. Sogar eine Stelle als Fähnrich hätte sich finden, eine Karriere als Berufsoffizier planen lassen. Aber etwas seltsam Widerspenstiges, Wildes, Zielloses steckte in dem Jungen. Schon mit dreizehn konnte er navigieren, seine Position auf dem Meer, in der Welt bestimmen; jeder Blick auf die Sterne sagte ihm, wo er war. Nur wo er hinwollte, war ihm nicht klar.
    John hoffte, es auf dieser Reise zu erfahren, wollte neue Länder entdecken, die Nordwestpassage finden, das Schicksal Franklins und seiner Männer aufklären und seinen Namen auf den Globus schreiben. Aber als er das Eis sah, diese endlose weiße Fläche, empfand er die Eitelkeit solcher Hoffnungen wie einen dumpfen Schmerz. Er hatte das Gefühl, ein Buch mit leeren Seiten aufzuschlagen. Darin

Weitere Kostenlose Bücher