Das blaue Siegel
würde er leben müssen.
34.
Das Rote Fort, geschützt von rund hundert Sepoys, die die Mauern und Eingänge bewachten, und einem guten Dutzend britischer Geheimdienstler, die die Sepoys bewachten, lag für Gowers doch da wie ein offenes Buch. Er hatte seine Abmessungen im Kopf, die ganze Anlage von der Mauer aus aufmerksam studiert und brauchte nur noch einen Bezugspunkt darin zu finden, eine Stelle, die er auf seiner blinden Wanderung mit Ishrat passiert hatte. Das konnte nicht allzu schwierig sein. Ein Problem waren die Hunde, aber kein sehr großes. Hunde waren nicht dumm, aber sie dachten langsam und stets Schritt für Schritt. Er musste nur schnell genug sein – und hoffen, dass auch Mukhopadhyaya schnell genug war.
»Es liegt mir fern, irgendwie in Ihr Leben einzugreifen, aber sehen Sie Ihre Zukunft ausschließlich hier in Delhi, Mr. Mukhopadhyaya?«
»Ich kann Ihnen nicht folgen, Mr. Gowers«, sagte der Anwalt, immer noch in gehobener Stimmung, weil sein Klient so prompt eine so große Summe bezahlt hatte. Es war das Dreifache seines üblichen Honorars, und mehr Geld, als der junge Mann im ganzen letzten Jahr eingenommen hatte. Mrs. Mukhopadhyaya hörte gar nicht mehr auf, den späten Gast mit saurem Wein und strahlenden Blicken zu traktieren.
»Ich brauche Sie als Dolmetscher bei meiner Ermittlung«, erklärte Gowers. »Aber das, was Sie dabei erfahren, könnte Sie bei einflussreichen Leuten in – sagen wir, Misskredit bringen.«
»Sie meinen also, es ist gefährlich?«, fragte Mukhopadhyaya und erinnerte sich an all die Details der Wedderburn-Affäre, die er tags zuvor am Morgen erfahren und nachts seiner Frau mitgeteilt hatte.
»Ich will offen sein«, fuhr der Investigator fort, »Sie müssten Delhi mitsamt Ihrer Familie verlassen, aber Sie würden ein Honorar erhalten, das es Ihnen ermöglicht, in jeder anderen Stadt Ihrer Wahl eine Kanzlei zu eröffnen. Mitsamt Büro und vielleicht sogar einem Sekretär.«
Die Augen des Anwalts funkelten. Zweifellos war dies einer der seltenen Momente, in denen der Mantelsaum der Glücksgöttin auch durch ein einfaches Leben streift, und er wollte so viel wie möglich davon festhalten. »Auch in Südafrika?«, fragte er. »Ich habe dort nämlich einen Bruder, Mr. Gowers, der …«
Mukhopadhyaya sagte nicht, dass er in Delhi auch eine Schwiegermutter hatte, die … Aber er kam auch gar nicht dazu, denn Gowers erwiderte: »Je weiter, desto besser, Mr. Mukhopadhyaya!«
»Was muss ich tun?«
Es waren zwei seltsame Gestalten, die um Mitternacht durch die allmählich leerer werdenden Straßen und das Delhi-Tor Richtung Königspalast gingen. Der Größere, zweifellos Inder, trug den dunkelgrünen Waffenrock eines Sergeanten des 66. Gurkha-Regiments, Nasiri-Bataillon, aber er bewegte sich nicht wie ein Gurkha, also lautlos, mit lockeren Knien. Stattdessen schritt er auf seinen endlosen Beinen dahin wie ein Reiher, ein zusammengerolltes Seil über die Schulter gelegt.
Dem anderen, zwei Köpfe kleiner, war nicht anzusehen, wer oder was er war. Das Schwert, das er auf dem Rücken trug wie ein Sikh, hatte einen mit Gold verzierten Griff – eine fürstliche indische Waffe, dabei war der Mann ein Weißer. Ein Weißer, ja, aber nicht so vornehm gekleidet wie ein britischer Nabob , Handelsherr oder auch nur Handelsgehilfe; ein Matrose vielleicht, aber auch ganz anders. Kein Soldat, aber doch mit einer ausgeblichenen Feldmütze, wie sie dem Posten am Delhi-Tor noch nicht vorgekommen war.
Aufgenähte gekreuzte Schwerter zeigten an, dass diese Mütze Teil einer Uniform gewesen war – aber Uniform welcher Armee? Der Nackenschutz war nicht angenäht, sondern nur eingesteckt; also keine britische Linieninfanterie. Der Schirm war mit Stoff überzogen, wie bei den First Madras Fusiliers – aber es fehlte ein Bügel, um die Mütze unter dem Kinn zu fixieren. Vermutlich irgendein europäischer Verbündeter Ihrer Majestät, dachte der Posten. Seltsam, aber kein Grund, um Alarm zu geben, sofern nicht noch deutlich mehr von seiner Sorte in die Stadt eindrangen. Und auch wenn er als Captain der Fourth Illinois, Aufklärungsabteilung, salutiert hätte, hätte Gowers den schläfrigen Posten nicht mehr von dieser bequemen Meinung abbringen können.
Auf dem Platz hinter dem Rajghat-Tor brannten einige kleine Feuer, hatten sich Krämer und Händler neben ihren Buden und auf ihren Waren schlafen gelegt. In den tiefen, fast eine Meile langen Schatten der
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