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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Festungsmauer über dem Fluss wurden um diese Zeit nur noch Bettler ermordet und Räuber gezeugt – jedenfalls bemerkte dort niemand, wie Gowers, Mukhopadhyayas Seil zum Lasso geknüpft, einen der fünf Meter hohen Mauervorsprünge einfing und sich langsam daran hochzog. Als er danach fast eine Viertelstunde lang zusehen musste, wie sein schlaksiger Begleiter ihm nachzuklettern versuchte, gab er allerdings den Plan auf, Mukhopadhyaya mit in den dunklen Palast zu nehmen.
    Der Anwalt war schweißgebadet, als er auf der Mauer ankam. Sein viel zu enger Uniformrock, das einzige Erbe seines Vaters, war unter beiden Achseln aus den Nähten gerissen. Ein solcher Mann konnte unmöglich den großen Hunden entkommen, selbst wenn es keine Afghanischen Windspiele gewesen wären. Immerhin war bisher alles einigermaßen lautlos vor sich gegangen. Etwa eine Viertelmeile entfernt sahen sie die Fackel eines Wachpostens auf der Mauer; sie hätten schon einen Schuss abgeben müssen, um die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich zu ziehen.
    »Sie werden hier oben bleiben und die Wache beobachten«, flüsterte Gowers. »Folgen Sie mir auf keinen Fall in den Hof, aber lassen Sie das Seil hängen!« Mit diesen Worten ließ der Investigator das Seil so leise wie möglich in den Innenhof hinunter und machte Anstalten, daran herabzuklettern.
    »Wo wollen Sie hin?«, fragte Mukhopadhyaya, der noch immer vor Anstrengung schwitzte bei dem Gedanken, ganz allein, gewissermaßen in Feindesland bleiben zu müssen. Gowers zeigte auf den schwarzen Ruinenkomplex auf der anderen Seite des Hofes. »Sehen Sie das Gebäude dort links, mit dem intakten Dach?«
    »Nein«, sagte Mukhopadhyaya, der natürlich nicht über die Gabe verfügte, die Gowers gegeben war: im Restlicht des funkelnden Sternenhimmels beinahe ebenso gut und weit sehen zu können wie normale Menschen in der hereinbrechenden Dämmerung.
    »Egal!«, zischte Gowers. »Warten Sie einfach auf mich.« Vorsichtig ließ er sich in den Hof hinunter. Der Anwalt schaute ihm unruhig nach und versuchte die Dunkelheit zu durchdringen, bis ihm die Augen tränten. Seine Unruhe steigerte sich zu Entsetzen, als plötzlich ein lautes Jaulen von unten her zu ihm drang und überall große graue Schatten aufsprangen, knurrend über den Hof jagten, einer unsichtbaren, schnellen Beute nach. Dann tiefe Stille, und Mukhopadhyaya fühlte sich merkwürdig deplatziert, allein und höchst illegal auf der Mauer des riesigen Roten Forts, unter den Sternen – und wartete.
     

35.
     
    Das Land war so erbärmlich flach, dass man im dichten Nebel die Küste manchmal eher fühlen als sehen konnte. Wenn das Zusammenspiel von Lot und Steuer zu langsam war, ein Schlag oder Törn durch den auffrischenden Wind länger wurde als geplant, lief die Investigator immer wieder auf Untiefen fest und musste freigewarpt werden. Stiegen dann die Leute mit klammen Sachen und Gliedern zu diesem Zweck in die fünf Beiboote, hörte man leise Flüche auf die Steuerleute, lautere auf den Nebel und vereinzelte auf die letzte Eiszeit – die dem amerikanischen Kontinent auf so grausam allmähliche Weise das Fleisch von den Knochen geschabt hatte, dass die eigentliche Küste sich jetzt nur mehr wenige Meter aus den grabkalten, grauen Fluten hob.
    Hier und da hatte die Tide Treibholz zu grotesken kleinen Hügeln geschichtet, und einmal stand ein einzelner Ast oder dünner Stamm, vor wer weiß wie vielen hundert Jahren die sibirischen Flüsse hinabgetrieben und von der Eisdrift hierhergetragen, so steil aufgerichtet, dass sie ihn auf die Entfernung für eine extra zu diesem Zweck aufgesteckte Planke oder Wegmarke hielten. Eine seltsame Aufregung bemächtigte sich daraufhin des ganzen Schiffes; wer sollte hier Wegzeichen aufstellen, wenn nicht Weiße, wenn nicht Franklin und seine Männer? Ein Boot wurde ausgeschickt, das Rätsel auf die unbefriedigendste Weise gelöst, und die Investigator versank wieder in der Lethargie ihrer langsamen, zähen Fahrt zwischen der Eis- und der Schlammbarriere.
    Der 15. August 1850 brachte ihnen etwas, das auch der erfahrenste Eisfahrer unter ihnen noch nie erlebt und wohl auch nicht für möglich gehalten hatte: ein Gewitter auf siebzig Grad nördlicher Breite, Blitz und Donner über dem Eis. Unter den schweren schwarzen Wolken, die aussahen wie von einem besonders depressiven holländischen Meister gemalt, wurde die Luft so schwül wie im englischen Sommer, und das Thermometer stieg auf fast unglaubliche 9,7 Grad

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