Das blaue Siegel
verhinderte zum Beispiel die East India Company lange Zeit und erfolgreich, dass christliche Missionare in Indien Fuß fassten. Man wollte Hindus und Moslems keinen so billigen Anlass zum Aufstand geben. Solange sie die Baumwolle ernteten, mit denen die englische Tuchindustrie die Welt – und auch Indien – bekleidete, solange die Kompanie also ihre Rohstoffe, ihre Arbeitskraft und ihr Geld bekam, wollte man den Indern nicht auch noch ihren Glauben nehmen.
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Das Ganze funktionierte bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts – als der Kuchen verteilt war. Irgendwann gab es keine unabhängigen Fürstentümer mehr, die man annektieren konnte, sondern nur noch Klientelstaaten, Verbündete wie den Nawab von Oudh oder den alten Großmogul, der eigentlich nur noch in seinem Palast herrschte, sich aber gern den Titel eines Königs von Delhi geben ließ. Ohne besiegbare Feinde in Reichweite machte sich deshalb die Kompanie daran, sachte und allmählich ihre indischen Freunde zu fressen. Zeitgleich setzte sich im fernen England eine breite Strömung von Menschenfreunden und Modernisierern durch, die es für ihre abendländische Pflicht hielten, der rückständigen Kolonie Anteile an den Segnungen der Zivilisation zu verschaffen. Straßen wurden gebaut, Eisenbahnlinien, Telegrafenleitungen wurden gezogen und christliche Schulen gegründet.
Die indischen Soldaten in der britischen Armee, über hunderttausend Sepoys, wurden im Gegenzug plötzlich als Diener der englischen Krone betrachtet und zu Einsätzen in alle Welt abkommandiert. Das aber war für Hindus wie Moslems nicht machbar; außerhalb Indiens ließen sich unter anderem ihre religiösen Ernährungsvorschriften praktisch nicht einhalten. Ernährten sie sich aber einmal wie Briten, verloren sie damit ihre Kastenzugehörigkeit, und das hieß: ihre Identität. Zugleich erhielten die Männer beunruhigende Nachrichten aus der Heimat. Im Februar 1856 hatte der Generalgouverneur den Nawab von Oudh schließlich offiziell entmachtet und ausgerechnet das Land annektiert, das als die große Wiege der Sepoys galt. Zwei Drittel der indischen Soldaten stammten aus Oudh. Nun hörten sie, dass ihr Fürst abgesetzt, ihr Landbesitz verloren war und ihre Familien die drückende britische Steuerlast kaum noch tragen konnten. Noch ein Jahr lang hielten sie sich ruhig; aber es gärte in einer Armee, in der auf jeden englischen Offizier und Soldaten dreißig einheimische Sepoys kamen.
Im Januar 1857 hielt dann eine neue Waffentechnik in Indien Einzug: die Enfield Rifle sollte die gute alte Brown Bess , das Gewehr, das den Subkontinent erobert hatte, ablösen. Das allein wäre angegangen, aber ein unverhandelbares Problem wurde die neue Munition. Die Enfield-Patronen bestanden aus Papierhülsen, die sowohl das Pulver als auch die Kugel enthielten. Um sein Gewehr zu laden, musste der Soldat ein Ende der Patrone aufbeißen, das Pulver in den Lauf schütten und danach die Kugel mitsamt dem Papier, das als Pfropfen diente, in den Lauf stoßen. Um das Pulver trocken zu halten und vor allem damit die Kugel leicht in den Lauf glitt, war das Papier eingefettet. Eine scharf kalkulierende Ökonomie, die die Preisunterschiede zwischen Bienenwachs, pflanzlichen und tierischen Fetten in Rechnung stellte, hatte sich dabei auf Schweine- und Rinderfett festgelegt. Iren, Schotten und Engländer mochte das Aufbeißen der Enfield-Patronen also angenehm an die Fleischtöpfe ihrer Heimat erinnern – einem Hindu oder Moslem war es schlicht unmöglich.
Die ersten achtzig Mann, die in Meerut, dreißig Kilometer nördlich von Delhi, den Befehl zum Laden ihrer Gewehre – also der Basis jedweder soldatischen Tätigkeit – verweigerten, wurden vor ein Kriegsgericht gestellt, zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt, vor der Front ihrer Kameraden entkleidet und ins Gefängnis geworfen. Angeblich waren es Frauen – die britischen Sieger sprachen später von Prostituierten –, die die loyal gebliebenen Sepoys, zwei Regimenter Infanterie und die 3. Leichte Kavallerie, so sehr mit Hohn und Verachtung überschütteten, bis sie schließlich das Gefängnis stürmten und ihre gedemütigten Kameraden befreiten. Ein englischer Offizier, Colonel John Finnis, der seine Männer beruhigen wollte, wurde vom Pferd geschossen, und damit war die allgemeine Rebellion da.
Der große Aufstand der Sepoys, die erste wirklich bedrohliche Herausforderung der britischen Kolonialmacht, dauerte drei Jahre und setzte das
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