Das blaue Siegel
fünft, unter den großen Fellen, und die Tranlampe brannte die ganze Nacht. Kenualik bestieg den unermüdlichen jungen Kabloona noch zweimal, und auch ihre Schwester legte sich einmal auf ihn. Durch so viel Liebe wurde ihnen sehr warm, und John, zwischen den Mädchen, bemerkte irritiert, dass irgendwann auch die Mutter ihre kalten Füße zu ihnen hinüberschob.
Neugierig tastende Hände hielten ihn die halbe Nacht wach, und auch er selbst fühlte links und rechts so viele sich überschneidende, sich wiederholende Formen, so viel üppiges Fleisch und warmen Schweiß, dass er die Einzelheiten nicht mehr zu unterscheiden vermochte und froh war, als er am nächsten Morgen seine eigenen Füße identifizieren konnte. Erst als er aus dem Zelt trat und das Schiff nicht mehr sah, bemerkte er, dass er ein Problem hatte.
46.
Das Königreich von Oudh war eines der ältesten in ganz Indien. Könige von Oudh oder Kosala, wie es auch genannt wurde, hatten schon gegen die Ghaznaviden und Mamelucken des Mittelalters gekämpft, gegen die Pala und Gupta der Spätantike, die Maurya- und Magadha-Dynastien zur Zeit des Alexanderzuges und führten ihre Ahnentafeln bis in die mythische Zeit der vedischen Arier zurück, fünfhundert Jahre vor der Gründung Roms. In der Mahabharata , so etwas wie die Ilias Indiens, also der indische Krieg um Troja, kämpfte ein König von Oudh mit. Die direkten Nachfahren der Pharaonen, ins 19. Jahrhundert versetzt, hätten nicht stolzer sein können.
Eine derart kontinuierliche Machterhaltung beruhte weniger auf militärischem als auf politischem Genie; die Könige, Rajas, Nawabs von Oudh waren stets geschickte Bündnispolitiker, die über so viele Generationen hin die Zeichen der Zeit richtig zu deuten und zu nutzen verstanden und sich den jeweils überlegenen Mächten anschlossen. Das waren seit Jahrhunderten die Sultane von Delhi und seit Aurangzeb dem Großen die Mogulen gewesen – aber nun eben auch die Engländer.
In diesem Zusammenhang musste sich Gowers über den gestohlenen Büchern allerdings immer wieder vor Augen führen, dass es im Grunde nicht Großbritannien als Staat oder Nation, sondern mit der East India Company eine private Handelsgesellschaft gewesen war, die Indien binnen zweier Jahrhunderte in ihren Besitz gebracht und ihren Mitgliedern, Direktoren und Angestellten mit dem unermesslichen Reichtum des Subkontinents die Taschen gefüllt hatte.
Die East India Company stellte eigene Armeen auf oder lieh sich gegen eine entsprechende Gewinnbeteiligung die Soldaten des Empire gewissermaßen aus; aber der britische Generalgouverneur Indiens, unter zuletzt fast drei Dutzend Marionettenkönigen, Maharadschas und Moguln also der eigentliche Herrscher über zweihundertfünfzig Millionen Menschen, war genau genommen Angestellter eines Handelsunternehmens und weniger der Krone und dem Parlament als vielmehr dem Direktorium und den Aktionären verpflichtet. Nie zuvor war Politik so offen Geschäft gewesen.
Die zahllosen Thronfolgestreitigkeiten in den vielen indischen Fürstentümern machten es der Kompanie leicht, sich stets auf die Seite desjenigen zu stellen, der ihr die meisten Rechte einräumte; mit Vorliebe beseitigten die Engländer also starke, unabhängige Herrscher und begünstigten die schwachen, korrupten. Fünfjährige Knaben, verweichlichte Lüstlinge regierten mächtige Länder, in denen sie zum Schutz ihrer Herrschaft die Soldaten der East India Company stationierten. Diesen Schutz mussten sie selbstverständlich bezahlen: mit Handelsprivilegien und Geld, solange sie welches hatten. Mit Land, wenn das Geld für ihre monströsen Hofhaltungen aufgebraucht war. Besaß die Kompanie aber einmal einen gewissen Teil des Landes, vergingen selten mehr als fünf Jahre, bis sie – selbstverständlich zum Wohle der Allgemeinheit und um den unerträglichen Druck der fürstlichen Tyrannei abzuschaffen – das ganze Land annektierte.
Widerstand gegen diese Politik wurde als rückständig und unmenschlich bezeichnet; wer ihn übte, wie zuletzt der Marathenbund, wurde im Namen des Fortschritts und der Demokratie mit Krieg überzogen – selten von der East India Company selbst. Meist von Handlangerstaaten, denen die Briten entsprechende Mittel zur Verfügung stellten. Mit diesem System waren auch die Fürsten von Oudh lange Zeit gut gefahren, zumal die Kompanie alles unterließ und unterband, was eine Art Unwucht in ihre ausgeklügelte Machtmaschinerie gebracht hätte.
So
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