Das blaue Zimmer
wahrscheinlich wäre sie nie zu einem Entschluß gelangt, wenn man nicht kurz danach auch mich eingeladen hätte. Ich war wirklich noch zu jung dafür, wie Mrs. Menheniot mit dröhnender Stimme am Telefon betonte, als sie Mama anrief, aber sie hatten zuwenig Mädchen und es wäre ein wahrer Segen, wenn ich dabeisein könnte, um die Zahl aufzustocken. Als Lalla hörte, daß man mich auch dazugebeten hatte, erklärte sie, wir würden selbst verständlich hingehen. Sie hatte inzwischen den Führerschein gemacht, und wir wollten uns Mamas Auto leihen.
Dann standen wir vor dem Problem, was wir anziehen soll ten, da Mama sich nicht im entferntesten leisten konnte, uns die Abendkleider zu kaufen, die wir gern gehabt hätten. Schließlich ließ sie sich von Liberty’s in London meterweise Stoff kommen und zauberte uns die Pracht selbst auf ihrer Nähmaschine. Lallas Kleid war aus hellblauem Batist, und sie sah in ihm himmlisch aus – vielleicht ein bißchen wie die Jagd göttin Diana. Meins hatte einen dunklen Goldton, und ich war in ihm durchaus vorzeigbar, aber natürlich mit Lalla nicht zu vergleichen, obwohl ich mittlerweile ein paar Zentimeter ge wachsen war und es auch zu einer annehmbaren Taille ge bracht hatte. Barney fand, wir sähen beide hinreißend aus, und sagte uns das auch. An dem Abend, an dem der Ball stattfand, zogen wir unsere Kleider an und machten uns, vor Aufregung kichernd, in Mamas Mini auf den Weg. Sobald wir vor dem Haus der Menheniots eintrafen, verging uns allerdings das Ki chern, denn die ganze Sache war so eindrucksvoll, daß einem angst und bange werden konnte. Scheinwerfer beleuchteten die Parkplätze, und Dutzende piekfeiner Leute strömten dem Eingang zu. Drinnen war es noch atemberaubender. Riesige Blumengebinde, die bis an die Decke reichten, weißbefrackte Kellner, die Tabletts mit Champagnergläsern herumtrugen, und Musik von einer echten, aus London angereisten Band.
Lalla und ich standen am Fuße der Treppe, auf der Gedränge herrschte, und mich erfaßte Panik. Wir kannten keinen. Kein einziges vertrautes Gesicht. Aber was noch schlimmer war, alle anderen schienen einander bestens zu kennen. Begrüßungsschreie gellten, Arme schlangen sich um Hälse, furchterregende junge Männer mit wiehernden Stimmen schlängelten sich an uns vorbei und steuerten auf Bekannte zu, die sie von weitem erspäht hatten. Lalla griff sich flink zwei Champa gnergläser von einem Tablett und drückte mir eins in die Hand. Ich trank einen Schluck, und genau in diesem Moment übertönte eine Stimme den allgemeinen Tumult. „Lalla!“ Ein Mädchen kam die Treppe herunter, ein dunkelhaariges Mäd chen in einem schulterfreien Satinkleid, das ganz offensicht lich nicht von der Mutter geschneidert worden war.
Lalla schaute zu ihr hinauf. „Rosemary!“
Es war Rosemary Sutton; sie kam aus London, und sie und Lalla waren in den guten alten Londoner Tagen miteinander zur Schule gegangen. Sie fielen sich in die Arme und hielten sich umschlungen, als wäre das alles, worauf jede von ihnen nur ge wartet hatte. „Was machst denn du hier? Ich hätte nie geglaubt, daß ich dich hier treffen würde. Wie herrlich! Komm mit zu Allan. Du kannst dich doch noch an meinen Bruder Allan erinnern, nicht wahr? Ach, ist das aufregend… “
Ich dachte, Lalla würde mich ganz und gar vergessen, doch dem war nicht so. „Das ist Jane. Meine Schwester… sie ist auch hier.“
„Oh, toll. Hallo Jane. Kommt mit, sie sind alle im Ballsaal!“
Ich schwamm in Lallas Kielwasser mit, zwängte mich zwi schen lauter Leuten durch, die ich nicht kannte, hielt mich an meinem Champagnerglas fest und wünschte, ich wäre nicht hergekommen. Schließlich tauchten wir in einer abgelegenen Ecke des Ballsaals auf, in der eine Gruppe fröhlich aussehender Gäste stand und sich unterhielt. Sie redeten wie die Wasser fälle. „Allan! Schau mal, wer da ist! Du erinnerst dich doch noch an Lalla, nicht wahr?“
Der junge Mann drehte sich um. Er sah derart gut aus, daß es fast nicht wahr sein konnte. So auffallend blond wie seine Schwester dunkelhaarig, tadellos gekleidet, mitternachts blauer Samtsmoking, schneeweiße Hemdbrust, schimmernde Goldknöpfe an makellos gestärkten und gefalteten Manschet ten, goldenes Uhrarmband. Lalla war ja schon groß, aber er war noch größer. Er sah auf sie hinunter, und seine markanten Züge spiegelten sowohl Überraschung als auch offensichtliche Freude wider. „Natürlich erinnere ich mich an sie“, sagte er.
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