Das blaue Zimmer
Sie würde niemals fortkommen.
Ihr Vater lebte noch fünfzehn Jahre, und sie unterrichtete weiter, bis er zu schwach wurde, um allein gelassen zu werden, und sei es nur für einen Tag. Da gab sie pflichtschuldig ihre Arbeit auf, die sie nicht gerade glücklich gemacht, aber zumin dest ausgefüllt hatte, und blieb zu Hause, um ihre Zeit dem Lebensabend ihres Vaters zu widmen. Sie besaß kaum eigenes Geld und nahm an, daß der alte Mann so wenig hatte wie sie selbst, so spärlich war das Haushaltsgeld, so knickerig war er mit Dingen wie Kohlen und Zentralheizung und selbst den bescheidensten Vergnügungen.
Er besaß ein altes Auto, das Miss Cameron fahren konnte, und an warmen Tagen packte sie ihn manchmal hinein, und dann saß er neben ihr, in seinem grauen Tweedanzug und dem schwarzen Hut, mit dem er wie ein Leichenbestatter aussah, während sie ihn ans Meer oder aufs Land chauffierte oder gar zum Holyrood-Park, wo er wankend einen kleinen Spaziergang machen oder unter den grasbewachsenen Hängen von Arthur’s Seat in der Sonne sitzen konnte. Dann aber schossen die Benzinpreise in die Höhe, und ohne sich mit seiner Tochter zu besprechen, verkaufte Mr. Cameron das Auto, und sie be saß nicht genug eigenes Geld, um ein neues zu kaufen.
Sie hatte eine Freundin, Dorothy Laurie, mit der sie studiert hatte. Dorothy hatte geheiratet – während Miss Cameron le dig geblieben war –, einen jungen Arzt, der mittlerweile ein un geheuer erfolgreicher Neurologe war und mit dem sie eine Familie mit wohlgeratenen Kindern gegründet hatte, die jetzt alle erwachsen waren. Dorothy entrüstete sich unaufhörlich über Miss Camerons Situation. Sie fand, und sprach es aus, Miss Camerons Eltern seien selbstsüchtig und gedankenlos ge wesen und der alte Herr werde immer schlimmer, je älter er werde. Als das Auto verkauft wurde, platzte ihr der Kragen.
„Lächerlich“, sagte sie beim Tee in ihrem sonnigen, mit Blu men gefüllten Wohnzimmer. Miss Cameron hatte ihre Putz frau bewogen, den Nachmittag über zu bleiben, um Mr. Ca meron seinen Tee zu servieren und aufzupassen, daß er auf dem Weg zur Toilette nicht die Treppe hinunterfiel. „So knau serig kann er nicht sein. Er wird sich doch bestimmt einen Wa gen leisten können, wenn schon nicht um seinetwillen, dann wenigstens dir zuliebe?“
Miss Cameron mochte ihr nicht erzählen, daß er nie an je mand anderen gedacht hatte als an sich selbst. Sie sagte: „Ich weiß nicht.“
„Dann solltest du es herausfinden. Sprich mit seinem Steu erberater. Oder mit seinem Anwalt.“
„Dorothy, das kann ich nicht. Das wäre ja, als würde ich ihn hintergehen.“ Dorothy machte ein Geräusch, das sich anhörte wie dieses „Paah“, das die Leute in altmodischen Romanen zu sagen pflegten.
„Ich möchte ihn nicht aufregen“, fuhr Miss Cameron fort.
„Würde ihm aber mal guttun, sich aufzuregen. Hätte er sich ein-, zweimal in seinem Leben aufgeregt, wäre er jetzt nicht so ein egoistischer alter…“ Sie schluckte herunter, was sie hatte sagen wollen, und ersetzte es durch „… Mann.“
„Er ist einsam.“
„Natürlich ist er einsam. Egoistische Menschen sind immer einsam. Daran ist niemand schuld außer er selber. Jahrelang hat er im Sessel gesessen und sich selbst bedauert.“
Es war zu wahr, um darüber zu streiten. „Na ja“, sagte Miss Cameron, „da ist nichts zu machen. Er ist fast neunzig. Es ist zu spät, ihn ändern zu wollen.“
„Ja, aber es ist nicht zu spät, daß du dich änderst. Du darfst nicht zulassen, daß du mit ihm alt wirst. Du mußt einen Teil deines Lebens für dich behalten.“
Schließlich starb er, schmerzlos und friedvoll. Nach einem ru higen Abend und einer ausgezeichneten Mahlzeit, die seine Tochter ihm gekocht hatte, schlief er ein und wachte nicht wie der auf. Miss Cameron war froh für ihn, daß sein Ende so still gekommen war. Erstaunlich viele Leute nahmen an der Be erdigung teil. Ein paar Tage später wurde Miss Cameron in die Kanzlei des Rechtsanwalts ihres Vaters bestellt. Sie ging hin, mit einem schwarzen Hut und in nervöser, gespannter Verfas sung. Dann aber kam alles ganz anders, als sie gedacht hatte. Mr. Cameron, dieser gerissene alte Schotte, hatte sich nie in die Karten schauen lassen. Die Pfennigfuchserei, die jahrelange Enthaltsamkeit, sie waren ein riesengroßer, phantastischer Bluff gewesen. In seinem Testament vermachte er seiner Toch ter sein Haus, seine irdischen Besitztümer und mehr Geld, als sie
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