Das blaue Zimmer
der Kloß in ihrer Kehle sich auflöste und daß sie nicht weinen würde. Sie wünschte, sie könnte Wil liam irgendwie verständlich machen, was ihr über Großvater in den Sinn gekommen war, aber dann fing sie seinen Blick auf, und er lächelte und schenkte ihr ein unmißverständliches Zwinkern, und da wurde ihr klar, daß sie es ihm nicht sagen mußte, weil er es schon wußte.
Miss Camerons Weihnachtsfest
D ie kleine Stadt Kilmoran hatte viele Gesichter, und für Miss Cameron waren sie alle schön. Im Frühling war das Wasser der Förde indigoblau gefärbt; landeinwärts tummelten sich Lämmer auf den Feldern, und in den Gärten wogten gelbe Narzissen. Der Sommer brachte die Besucher; Familien kampierten am Strand und schwammen in den flachen Wel len; der Eiswagen parkte am Wellenbrecher, der alte Mann mit dem Esel ließ die Kinder reiten. Und dann, gegen Mitte Sep tember, verschwanden die Besucher, die Ferienhäuser wurden dichtgemacht, ihre Fenster mit den geschlossenen Läden starr ten blind über das Wasser zu den Hügeln am fernen Ufer. Über all auf dem Land brummten die Mähdrescher, und wenn die ersten Blätter von den Bäumen fielen und die stürmischen Herbstfluten das Meer bis an die Krone der Mauer unterhalb von Miss Camerons Garten steigen ließen, kamen die ersten Wildgänse von Norden geflogen. Nach den Gänsen hatte Miss Cameron jedesmal das Gefühl, nun sei der Winter eingekehrt.
Und das war, dachte sie im stillen, vielleicht die allerschön ste Zeit. Ihr Haus sah nach Süden über die Förde; und war es auch oft dunkel, windig und regnerisch, wenn sie aufwachte, so war der Himmel doch manchmal auch klar und wolkenlos, und an solchen Morgen lag sie im Bett und beobachtete, wie die Sonne über den Horizont kletterte und das Schlafzimmer mit rosigem Licht durchflutete. Es blinkte auf dem Messing gestell des Bettes und wurde von dem Spiegel über dem Toilet tentisch reflektiert.
Heute war der 24. Dezember, und was für ein Morgen! Und morgen Weihnachten. Sie lebte allein und würde den morgi gen Tag allein verbringen. Es machte ihr nichts aus. Sie und ihr Haus würden sich gegenseitig Gesellschaft leisten. Sie stand auf und schloß das Fenster. Die fernen Lammermuir-Hügel waren mit Schnee überzuckert, und auf der Mauer am Ende des Gartens saß eine Möwe kreischend über einem Stück ver faultem Fisch. Plötzlich breitete sie die Schwingen aus und flog davon. Das Sonnenlicht fing sich in dem weißen Gefieder und verwandelte die Möwe in einen zauberhaften rosa Vogel, so schön, daß Miss Cameron vor Freude und Aufregung das Herz schwoll. Sie beobachtete den Flug der Möwe, bis sie außer Sicht segelte, dann zog sie ihre Pantoffeln an und ging hinun ter, um Wasser für ihren Tee aufzusetzen.
Miss Cameron war achtundfünfzig. Bis vor zwei Jahren hatte sie in Edinburgh gelebt, in dem großen, kalten, nach Norden gelegenen Haus, wo sie geboren und aufgewachsen war. Sie war ein Einzelkind gewesen, ihre Eltern waren um so vieles älter als sie, daß sie, als sie zwanzig war, bereits als betagt gel ten konnten. Deswegen war es schwierig, wenn nicht unmög lich, von zu Hause wegzugehen und ihr eigenes Leben zu leben. Irgendwie gelang ihr ein Kompromiß. Sie besuchte die Univer sität, aber in Edinburgh, und wohnte zu Hause. Danach arbei tete sie als Lehrerin, aber auch das tat sie an einer Schule am Ort, und als sie dreißig war, stand es außer Frage, die zwei alten Leute im Stich zu lassen, denen – unglaublich, dachte Miss Ca meron oft – sie ihr Dasein verdankte.
Als sie vierzig war, hatte ihre Mutter, die nie sehr kräftig gewe sen war, einen leichten Herzanfall. Sie lag einen Monat kraftlos im Bett, dann starb sie. Nach dem Begräbnis kehrten Miss Cameron und ihr Vater in das große, düstere Haus zurück. Er ging nach oben und setzte sich verdrießlich ans Feuer, und sie ging in die Küche und machte Tee. Die Küche lag im Souter rain, und das Fenster war vergittert, um eventuelle Eindring linge abzuschrecken. Während Miss Cameron wartete, daß das Wasser kochte, sah sie durch die Gitterstäbe auf das kleine Steingärtchen. Sie hatte versucht, dort Geranien zu ziehen, aber sie waren alle verwelkt, und nun war dort nichts zu sehen als ein hartnäckiger Weidenröschensproß. Die Gitter ließen die Küche wie ein Gefängnis anmuten. Das war ihr früher nie in den Sinn gekommen, aber jetzt kam es ihr in den Sinn, und sie wußte, daß es stimmte.
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