Das blaue Zimmer
sich je erträumt hatte. Höflich und äußerlich gefaßt wie stets, verließ sie die Anwaltskanzlei und trat auf dem Charlotte Square in den Sonnenschein hinaus. Eine Fahne flatterte hoch über den Festungswällen des Schlosses, und die Luft war kalt und frisch. Miss Cameron ging zu Jenners, eine Tasse Kaffee trinken, dann besuchte sie Dorothy.
Als Dorothy die Neuigkeit vernahm, war sie – typisch für sie – hin und her gerissen zwischen Wut auf die Hinterlist und Falschheit des alten Mr. Cameron und Begeisterung über das Glück ihrer Freundin. „Du kannst dir ein Auto kaufen“, sagte sie zu ihr. „Du kannst reisen. Du kannst dir einen Pelzmantel anschaffen, Kreuzfahrten machen. Alles. Was wirst du tun? Was wirst du mit dem Rest deines Lebens anfangen?“
„Hm“, meinte Miss Cameron vorsichtig, „ich werde mir einen kleinen Wagen kaufen.“ An die Vorstellung, frei, beweg lich zu sein, ohne auf einen anderen Menschen Rücksicht zu nehmen, mußte sie sich erst langsam gewöhnen.
„Und reisen?“
Aber Miss Cameron hatte keine große Lust zu reisen, außer daß sie eines Tages nach Oberammergau wollte, um die Pas sionsspiele zu sehen. Und sie wollte keine Kreuzfahrten ma chen. Eigentlich wünschte sie sich nur eines, hatte sie sich ihr Leben lang nur eines gewünscht. Und jetzt konnte sie es haben.
Sie sagte: „Ich verkaufe das Haus in Edinburgh. Und kaufe ein anderes.“
„Wo?“
Sie wußte genau, wo. Kilmoran. Sie hatte dort einen Som mer verbracht, als sie zehn war, auf Einladung der liebenswür digen Eltern einer Schulfreundin. Es waren derart glückliche Ferien gewesen, daß Miss Cameron sie nie vergessen hatte.
Sie sagte: „Ich ziehe nach Kilmoran.“
„Kilmoran? Aber das ist ja bloß über die Förde… “
Miss Cameron lächelte sie an. Es war ein Lächeln, wie es Dorothy noch nie gesehen hatte, und es ließ sie verstummen. „Dort werde ich ein Haus kaufen.“
Und sie machte es wahr. Ein Reihenhaus mit Blick aufs Meer. Von hinten, der Nordseite, wirkte es unansehnlich und lang weilig; es hatte quadratische Fenster, und die Haustür lag direkt am Bürgersteig. Aber drinnen war es schön, ein georgianisches Haus in Miniaturgröße, die Diele war mit Schieferplat ten belegt, und eine geschweifte Treppe führte ins obere Stock werk. Das Wohnzimmer lag oben, es hatte ein Erkerfenster, und vor dem Haus war ein Garten, zum Schutz vor dem See wind ummauert. In der Mauer war ein großes Tor, und dahin ter führte eine Steintreppe über die Kaimauer an den Strand. Im Sommer liefen Kinder auf der Kaimauer entlang, sie schrien und lärmten, aber Miss Cameron machte dieser Lärm nichts aus, ebensowenig wie die Geräusche der Wellen oder der Möwen oder der ewigen Winde.
Es gab viel zu tun an dem Haus und viel aufzuwenden, aber mit einer gewissen mäuschenhaften Courage tat sie beides. Sie ließ eine Zentralheizung und doppelte Fensterscheiben instal lieren. Die Küche wurde mit Kiefernschränken neu eingerich tet, und hellgrüne Badezimmerfliesen ersetzten die alten, ange schlagenen weißen. Die hübschesten und kleinsten Möbelstücke aus dem alten Edinburgher Haus wurden ausgesucht und mit einem großen Lastwagen nach Kilmoran verfrachtet, zusammen mit dem Porzellan, dem Silber, den vertrauten Bil dern. Aber sie kaufte neue Teppiche und Vorhänge und ließ die Wände neu tapezieren und die Holzbalken strahlend weiß streichen.
Was den Garten anging – sie hatte nie einen Garten beses sen. Jetzt kaufte sie Bücher und studierte sie abends im Bett, und sie pflanzte Steinbrech und Ehrenpreis, Thymian und Lavendel, und sie kaufte einen kleinen Rasenmäher und mähte eigenhändig das rauhe, büschelige Gras.
Über den Garten lernte sie zwangsläufig ihre Nachbarn ken nen. Rechter Hand wohnten Mitchells, ein älteres Rentnerehepaar. Sie plauderten über die Gartenmauer hinweg, und eines Tages lud Mrs. Mitchell Miss Cameron zum Abendessen und zum Bridgespiel ein. Behutsam wurden sie und Miss Ca meron Freunde, aber es waren altmodische, förmliche Leute. Sie boten Miss Cameron nicht an, sich gegenseitig beim Vor namen zu nennen, und sie war zu schüchtern, es von sich aus vorzuschlagen. Als sie darüber nachsann, wurde ihr klar, daß Dorothy jetzt der einzige Mensch war, der ihren Vornamen kannte. Es war traurig, wenn die Leute nicht mehr merkten, daß man einen Vornamen hatte. Es bedeutete, daß man lang sam alt wurde.
Die Nachbarn zur Linken waren jedoch aus ganz anderem Holz geschnitzt.
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