Das blaue Zimmer
ihrer Verwun derung eine Männerstimme. Es war Ambrose Ashley von nebenan.
Er sagte: „Sie sind da.“
„Natürlich.“
„Ich komme rüber.“
Er legte auf. Eine Minute später läutete es an der Haustür, und sie ging aufmachen. Er stand auf dem Bürgersteig, asch fahl, fleischlos wie ein Skelett.
Sie fragte sogleich: „Was ist passiert?“
„Ich muß Frances nach Edinburgh ins Krankenhaus brin gen.“
„Kommt das Baby?“
„Ich weiß nicht. Sie fühlt sich seit gestern nicht wohl. Ich mache mir Sorgen. Ich habe unseren Arzt angerufen, und er sagt, ich soll sie sofort hinbringen.“
„Wie kann ich helfen?“
„Deswegen bin ich hier. Könnten Sie herüberkommen und bei Bryony bleiben? Sie möchte mit uns fahren, aber ich möchte sie lieber nicht mitnehmen und will sie nicht allein lassen.“
„Selbstverständlich.“ Trotz ihrer Besorgnis wurde es Miss Cameron ganz warm ums Herz. Sie brauchten ihre Hilfe. Sie waren zu ihr gekommen. „Aber ich finde, sie sollte lieber zu mir kommen. Es wäre womöglich leichter für sie.“
„Sie sind ein Engel.“
Er ging in sein Haus zurück. Gleich darauf kam er wieder heraus, den Arm um seine Frau gelegt. Sie gingen zum Auto, und er half ihr sachte hinein. Bryony folgte mit dem Koffer ihrer Mutter. Sie trug ihre Jeans und einen dicken weißen Pull over, und als sie sich ins Auto beugte, um ihre Mutter zu um armen und ihr einen Kuß zu geben, spürte Miss Cameron einen Kloß in ihrer Kehle. Vierzehn, das wußte sie aus langjähriger Erfahrung, konnte ein unmögliches Alter sein. Alt genug, um zu begreifen, doch nicht alt genug, um praktische Hilfe zu leisten. Im Geiste sah sie Bryony und ihre Mutter zusammen über den Sand laufen, und sie fühlte tiefes Mitleid mit dem Kind.
Der Wagenschlag wurde geschlossen. Mr. Ashley gab seiner Tochter noch rasch einen Kuß. „Ich ruf an“, sagte er zu ihnen beiden, dann setzte er sich hinters Lenkrad. Minuten später war das Auto verschwunden, das rote Rücklicht von der Dunkelheit verschluckt. Miss Cameron und Bryony standen allein auf dem Bürgersteig im Wind.
Bryony war gewachsen. Sie war jetzt fast so groß wie Miss Cameron, und sie war es, die als erste sprach. „Haben Sie was dagegen, wenn ich mit Ihnen reinkomme?“ Ihre Stimme war beherrscht, kühl.
Miss Cameron beschloß, es ihr gleichzutun. „Keineswegs“, erwiderte sie.
„Ich schließe bloß das Haus ab und stelle ein Schutzgitter vors Feuer.“
„Tu das. Ich warte auf dich.“
Als sie kam, hatte Miss Cameron Holz nachgelegt, eine frische Kanne Tee gemacht, eine zweite Tasse nebst Unter tasse aufgedeckt, dazu eine Packung Schokoladenplätzchen. Bryony setzte sich auf den Kaminvorleger, die Knie ans Kinn gezogen, die langen Finger um die Teetasse gelegt, als dürste sie nach Wärme.
Miss Cameron sagte: „Du mußt versuchen, dich nicht zu ängstigen. Ich bin sicher, daß alles gutgeht.“
Bryony sagte: „Eigentlich hat sie das Baby gar nicht gewollt. Als es anfing, waren wir in Amerika, und sie meinte, sie wäre zu alt zum Kinderkriegen. Aber dann hat sie sich an den Gedank en gewöhnt und wurde ganz aufgeregt deswegen, und wir haben in New York Kleider und so gekauft. Aber letzten Monat wurde alles ganz anders. Sie scheint so müde und… beinahe ängstlich.“
„Ich habe nie ein Kind gehabt“, sagte Miss Cameron, „da her weiß ich nicht, wie einem dabei zumute ist. Aber ich kann mir vorstellen, es ist eine sehr empfindsame Zeit. Und man kann nichts dafür, wie man sich fühlt. Es hat keinen Sinn, wenn einem andere Leute sagen, man darf nicht deprimiert sein.“
„Sie sagt, sie ist zu alt. Sie ist fast vierzig.“
„Meine Mutter war vierzig, bevor ich auf die Welt kam. Ich war ihr erstes und einziges Kind. Und mir fehlt nichts, und mei ner Mutter hat auch nichts gefehlt.“
Bryony blickte auf; diese Offenbarung weckte ihr Interesse. „Tatsächlich? Hat es Ihnen nichts ausgemacht, daß sie so alt war?“
Miss Cameron befand, daß die reine Wahrheit ausnahms weise nicht angebracht war. „Nein, überhaupt nicht. Und bei eurem Baby wird es anders sein, weil du da bist. Ich kann mir nichts Schöneres denken, als eine Schwester zu haben, die vier zehn Jahre älter ist als man selbst. Ganz so, als hätte man die allerbeste Tante auf der Welt.“
„Das Schreckliche ist“, sagte Bryony, „es würde mir nicht so viel ausmachen, wenn dem Baby was passiert. Aber ich könnte es nicht ertragen, wenn Mutter was zustieße.“
Miss Cameron
Weitere Kostenlose Bücher