Das blaue Zimmer
wunderbares Erlebnis. Aber jetzt sind wir wieder in Edinburgh, und der Alltag hat mich wie der.“
„Wie lange bleiben Sie hier?“
„Leider nur ein paar Tage. Ich werde die ganze Zeit brau chen, um dem Gras beizukommen… “
Aber Miss Camerons Aufmerksamkeit wurde durch eine Bewegung beim Haus abgelenkt. Die Tür ging auf, und Fran ces Ashley kam heraus und die Treppe hinunter auf sie zu. Nach sekundenlangem Zögern lächelte Miss Cameron und sagte: „Schön, daß Sie zurück sind. Ich freue mich so, Sie beide wiederzusehen.“
Sie hoffte sehr, daß sie das Zögern nicht bemerkt hatten. Sie wollte auf gar keinen Fall, daß sie auch nur ahnten, wie er schrocken und erstaunt sie gewesen war. Denn Frances Ashley war wundersamerweise sichtlich schwanger aus Amerika zu rückgekehrt.
„Sie bekommt noch ein Baby“, sagte Mrs. Mitchell. „Nach so langer Zeit. Sie bekommt noch ein Baby.“
„Es gibt keinen Grund, weswegen sie nicht noch ein Baby bekommen sollte“, sagte Miss Cameron matt. „Ich meine, wenn sie es will.“
„Aber Bryony muß jetzt vierzehn sein.“
„Das spielt keine Rolle.“
„Nein, es spielt keine Rolle… es ist nur… nun ja, ziemlich ungewöhnlich.“
Die zwei Damen verbrachten einen Moment in einmütigem Schweigen.
Nach einer Weile meinte Mrs. Mitchell vorsichtig: „Sie ist schließlich nicht mehr die Jüngste.“
„Sie sieht sehr jung aus“, sagte Miss Cameron.
„Ja, sie sieht jung aus, aber sie muß mindestens achtunddrei ßig sein. Sicher, das ist jung, wenn man in die Jahre kommt wie wir. Aber es ist nicht jung, wenn man ein Baby bekommt.“
Miss Cameron hatte nicht gewußt, daß Mrs. Ashley achtunddreißig war. Manchmal, wenn sie mit ihrer langbeinigen Tochter im Sand war, sahen sie gleich alt aus. Sie sagte: „Es wird bestimmt gutgehen“, aber es klang selbst in ihren eigenen Ohren nicht recht überzeugt.
„Ja, sicher“, sagte Mrs. Mitchell. Ihre Blicke trafen sich, dann sahen beide rasch weg.
Und jetzt war es mitten im Winter und wieder Weihnachten, und Miss Cameron war allein. Wenn die Mitchells hier gewe sen wären, hätte sie sie vielleicht für morgen zum Mittagessen eingeladen, aber sie waren verreist, um die Feiertage bei ihrer verheirateten Tochter in Dorset zu verbringen. Ihr Haus stand leer. Das Haus der Ashleys dagegen war bewohnt. Sie waren vor ein paar Tagen aus Edinburgh gekommen, aber Miss Ca meron hatte nicht mit ihnen gesprochen. Sie fand, daß sie es tun sollte, aber aus einem obskuren Grund war es im Winter schwerer, Kontakt zu knüpfen. Man konnte nicht lässig über die Gartenmauer hinweg plaudern, wenn die Leute drinnen blieben, beim Feuer und mit zugezogenen Vorhängen. Und sie war zu schüchtern, sich einen Anlaß auszudenken, um an ihre Tür zu klopfen. Hätte sie sie besser gekannt, so würde sie ihnen Weihnachtsgeschenke gekauft haben, aber wenn sie dann nichts für sie hätten, könnte es peinlich werden. Zudem war da Mrs. Ashleys Schwangerschaft, die machte die Sache noch komplizierter. Gestern hatte Miss Cameron sie beim Wäscheaufhängen erspäht, und es sah so aus, als könnte das Baby jeden Moment kommen.
Am Nachmittag unternahmen Mrs. Ashley und Bryony einen Spaziergang am Strand. Sie gingen langsam, rannten nicht um die Wette wie sonst. Mrs. Ashley trug Gummistiefel und zockelte müde, schwerfällig, als werde sie nicht nur von dem Gewicht des Babys niedergedrückt, sondern von allen Sorgen der Welt. Sogar ihre roten Haare schienen ihre Spann kraft verloren zu haben. Bryony verlangsamte ihren Schritt, um sich ihrer Mutter anzupassen, und als sie von ihrem kleinen Ausflug zurückkehrten, hielt sie ihre Mutter am Arm und stützte sie.
Ich darf nicht an sie denken, sagte sich Miss Cameron brüsk. Ich darf nicht zu einer alten Dame werden, die sich in alles einmischt, die ihre Nachbarn beobachtet und Geschich ten über sie erfindet. Es geht mich nichts an.
Heiligabend. Zu Festtagsstimmung entschlossen, stellte Miss Cameron ihre Weihnachtskarten auf dem Kaminsims auf und füllte eine Schale mit Stechpalmenzweigen; sie holte Holzscheite herein und putzte das Haus, und am Nachmittag machte sie einen ausgedehnten Strandspaziergang. Als sie nach Hause kam, war es dunkel, ein seltsamer, bewölkter Abend, ein stürmischer Wind wehte von Westen. Sie zog die Vorhänge zu und machte Tee. Sie hatte sich gerade hinge setzt, die Knie nahe am flackernden Feuer, als das Telefon klingelte. Sie stand auf, nahm ab und hörte zu
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