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Das blaue Zimmer

Das blaue Zimmer

Titel: Das blaue Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
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wohlauf.“
    „Oh… “ Es war zuviel. Erleichterung öffnete die Schleusentore, und Bryonys sämtliche Ängste lösten sich in einem Tränenstrom. „Oh… “ Ihr Mund wurde eckig wie der eines plärrenden Kindes, und Miss Cameron konnte es nicht ertragen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt eine zärt liche körperliche Berührung mit einem anderen Menschen hatte, aber nun nahm sie das weinende Mädchen in die Arme. Bryony schlang ihre Arme um Miss Camerons Hals und hielt sie so fest, daß sie dachte, sie würde ersticken. Sie fühlte die dünnen Schultern unter ihren Händen; die nasse, tränenüber strömte Wange drückte sich gegen ihre.
    „Ich dachte… ich dachte, es würde etwas Schreckliches passieren. Ich dachte, sie würde sterben.“
    „Ich weiß“, sagte Miss Cameron, „ich weiß.“
    Es dauerte ein Weilchen, bis sich beide gefaßt hatten. Aber schließlich war es vorbei, die Tränen waren abgewischt, die Kissen aufgeschüttelt, der Tee eingeschenkt, und sie konnten von dem Baby sprechen.
    „Es ist bestimmt was ganz Besonderes, am Weihnachtstag geboren zu sein“, sagte Bryony. „Wann werde ich ihn sehen?“
    „Ich weiß nicht. Dein Vater wird es dir sagen.“
    „Wann kommt er?“
    „Er wird zur Mittagszeit hier sein. Wir gehen alle ins Hotel, Truthahnbraten essen.“
    „Oh, prima. Ich bin froh, daß Sie mitkommen. Was machen wir, bis er kommt? Es ist erst halb acht.“
    „Es gibt eine Menge zu tun“, sagte Miss Cameron. „Wir ma chen uns ein Riesenfrühstück, zünden ein Riesenweihnachts feuer an – wenn du magst, können wir in die Kirche gehen.“
    „0 ja. Und Weihnachtslieder singen. Jetzt hab ich nichts mehr dagegen, an Weihnachten zu denken. Ich mochte bloß gestern abend nicht dran denken.“ Dann sagte sie: „Ist es wohl möglich, daß ich ein schönes heißes Bad nehme?“
    „Du kannst machen, wozu du Lust hast.“ Sie stand auf, nahm das Teetablett und ging damit zur Tür. Aber als sie die Tür öffnete, sagte Bryony: „Miss Cameron“, und sie drehte sich um.
    „Sie waren gestern abend so lieb zu mir. Vielen, vielen Dank. Ich weiß nicht, was ich ohne Sie gemacht hätte.“
    „Ich fand es schön, dich hier zu haben“, sagte Miss Cameron aufrichtig. „Ich habe mich gerne mit dir unterhalten.“ Sie zögerte. Ihr war soeben ein Gedanke gekommen. „Bryony, nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, meine ich, du solltest nicht mehr Miss Cameron zu mir sagen. Das klingt so schrecklich förmlich, und das haben wir doch ein für allemal hinter uns, nicht?“
    Bryony blickte ein wenig verwundert drein, aber nicht im mindesten verstört.
    „In Ordnung. Wenn Sie es sagen. Aber wie soll ich Sie denn nennen?“
    „Mein Name“, sagte Miss Cameron und lächelte, weil es wirklich ein sehr hübscher Name war, „ist Isobel.“

Tee mit dem Professor
     

     
     
     
     
     
     
     
    S ie waren viel zu früh am Bahnhof, aber James war es recht so, denn er hatte eine Heidenangst, den Zug zu verpassen. Sie hatten den Wagen geparkt, seine Fahrkarte gekauft und gingen nun langsam zusammen die Rampe hinauf. Veronica trug seine Tasche, und James hatte seinen Rugbyball unter einen Arm geklemmt und seinen Regenmantel über den anderen gehängt.
    Der Bahnsteig war menschenleer. Wo der Wind nicht hin kam, war es noch warm, und sie fanden eine Bank in einer ge schützten Ecke und setzten sich in den goldenen September sonnenschein. James trat mit seiner Schuhspitze gegen Kiesel steine. Über ihnen raschelten die trockenen, staubigen Blätter einer Palme im Wind. Auf der Straße fuhr ein Auto vorüber, aus einem kleinen Schuppen trat ein Träger mit einem Gepäck wagen, den er den ganzen Bahnsteig entlangschob. Sie beob achteten ihn schweigend. James sah auf die Bahnsteiguhr.
    „Nigel kommt zu spät“, sagte er zufrieden.
    „Es sind noch fünf Minuten Zeit.“
    Er trat wieder gegen Kieselsteine. Sie betrachtete sein küh les, gleichgültiges Profil, die Wimpern seiner gesenkten Augen s treiften die noch babyhaft gerundeten Wangen. Er war zehn Jahre alt, ihr einziger Sohn, und er fuhr zurück ins Internat. Sie hatten sich zu Hause auf Wiedersehen gesagt, mit einer leiden schaftlichen Umarmung, die ihr das Gefühl gab, auseinander gerissen zu werden. Danach war es nun, als sei er schon ab gereist. Sie war ihm dankbar für seine Gefaßtheit.
    Ein Auto sauste den Hügel hinauf, schaltete herunter, bog auf den Bahnhofsplatz. Bremsen quietschten, lose Steine

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