Das blaue Zimmer
telefonierten. Als sie das Klingeln beim Auflegen des Hörers hörte, ging sie nicht in die Diele, sondern machte sich am Spülbecken zu schaffen, füllte Wärmflaschen und wienerte das ohnehin makellos saubere Abtropfbrett. Sie rechnete halb wegs mit Tränen, als Bryony zu ihr kam, doch Bryony war ge faßt und tränenlos wie immer.
„Er sagt, wir müssen einfach abwarten. Haben Sie was da gegen, wenn ich bei Ihnen übernachte? Ich kann nach nebenan gehen und meine Zahnbürste und meine Sachen holen.“
„Ich möchte, daß du bleibst. Du kannst in meinem Gäste zimmer schlafen.“
Schließlich ging Bryony ins Bett, mit einer Wärmflasche und einem Becher warmer Milch. Miss Cameron ging ihr gute Nacht sagen, aber sie war zu schüchtern, um ihr einen Kuß zu geben. Bryonys flammendrote Haare waren wie rote Seide auf Miss Camerons bestem Leinenkissenbezug ausgebreitet, und sie hatte außer ihrer Zahnbürste einen bejahrten Teddy mit gebracht. Er hatte eine fadenscheinige Nase und nur ein Auge. Als Miss Cameron eine halbe Stunde später selbst zu Bett ging, warf sie einen Blick ins Gästezimmer und sah, daß Bryony fest schlief.
Miss Cameron legte sich ins Bett, aber der Schlaf wollte nicht so leicht kommen. Ihr Hirn schien aufgezogen von Erin nerungen an Menschen und Ortschaften, an die sie seit Jahren nicht mehr gedacht hatte.
Ich finde, jeder Mensch ist interessant, hatte Bryony gesagt, und Miss Cameron wurde es warm ums Herz vor lauter Hoff nung für den Zustand der Welt. So schlimm konnte es nicht bestellt sein, wenn es noch junge Menschen gab, die so dach ten.
Sie sagte, Sie haben ein schönes Gesicht. Vielleicht, dachte sie, tu ich nicht genug. Ich habe mich zu sehr in mich selbst zu rückgezogen. Es ist egoistisch, nicht mehr an andere Menschen zu denken. Ich muß mehr tun. Ich muß reisen. Nach Neujahr melde ich mich bei Dorothy und frage sie, ob sie mit kommen möchte.
Madeira. Sie könnten nach Madeira fahren. Blauer Himmel und Bougainvillea. Und Jakarandabäume…
Mitten in der Nacht fuhr sie furchtbar erschrocken auf. Es war stockdunkel, es war bitterkalt. Das Telefon klingelte. Sie knip ste die Nachttischlampe an, sie sah auf die Uhr. Es war nicht mitten in der Nacht, sondern sechs Uhr morgens. Weihnachts morgen. Sie nahm den Hörer ab. „Ja?“
„Miss Cameron? Ambrose Ashley am Apparat… “ Er klang erschöpft.
„Oh.“ Sie fühlte sich ganz matt. „Erzählen Sie.“
„Ein Junge. Vor einer halben Stunde geboren. Ein niedlicher kleiner Junge.“
„Und Ihre Frau?“
„Sie schläft. Es geht ihr gut.“
Nach einer Weile sagte Miss Cameron: „Ich sag’s Bryony.“
„Ich komme heute im Laufe des Vormittags nach Kilmo ran – gegen Mittag, denke ich. Ich rufe im Hotel an und gehe mit Ihnen beiden dort essen. Das heißt, wenn Sie Lust ha ben?“
„Das ist sehr liebenswürdig“, sagte Miss Cameron, „äu ßerst liebenswürdig.“
„Wenn einer liebenswürdig ist, dann Sie“, sagte Mr. Ashley.
Ein neugeborenes Baby. Ein neugeborenes Baby am Weih nachtsmorgen. Sie fragte sich, ob sie es Noel nennen würden. Sie stand auf und trat ans offene Fenster. Der Morgen war dun kel und kalt, die Flut hoch, die pechschwarzen Wellen klatschten gegen die Kaimauer. Die eisige Luft roch nach Meer. Miss Cameron sog sie tief ein, und mit einemmal war sie ungeheuer aufgeregt und von grenzenloser Energie erfüllt. Ein kleiner Junge. Sie sonnte sich in dem Gefühl einer großartigen Lei stung, was lächerlich war, weil sie überhaupt nichts geleistet hatte.
Als sie angezogen war, ging sie hinunter, um Wasser auf zusetzen. Sie deckte ein Teetablett für Bryony und stellte zwei Tassen und Untertassen darauf.
Ich sollte ein Geschenk für sie haben, sagte sie sich. Es ist Weihnachten, und ich habe nichts für sie. Aber sie wußte, daß sie Bryony zusammen mit dem Teetablett das schönste Ge schenk bringen würde, das sie je bekommen hatte.
Es war jetzt kurz vor sieben. Sie ging nach oben in Bryonys Zimmer, stellte das Tablett auf den Nachttisch und knipste die Lampe an. Sie zog die Vorhänge auf. Bryony rührte sich im Bett. Miss Cameron setzte sich zu ihr und nahm ihre Hand. Der Teddy lugte hervor, seine Ohren lagen unter Bryo nys Kinn. Bryony schlug die Augen auf. Sie sah Miss Came ron dasitzen, und sogleich weiteten sich ihre ‘ Augen vor Sorge.
Miss Cameron lächelte. „Frohe Weihnachten.“
„Hat mein Vater angerufen?“
„Du hast ein Brüderchen, und deine Mutter ist
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