Das blaue Zimmer
Augenblick verharrte sie erstaunt über den Sägebock gebeugt, dann richtete sie sich auf, ließ die Säge mitten in einem alten Ast stecken. Sie staubte sich die Hände am Hosenboden ab und kam zu Ellen.
„Hallo.“
Sie war eine sehr würdevolle Erscheinung. Groß, schlank, kräftig wie ein Mann. Die grauen Haare waren am Hinterkopf zu einem Knoten geschlungen, ihr Gesicht war sonnenge bräunt, mit dunklen Augen und glatten Zügen. Zu ihrer flecki gen Hose trug sie einen Marinepullover, und um den Hals hatte sie ein getupftes Tuch geknotet. „Wer sind Sie?“
Es klang nicht unfreundlich, sondern vielmehr, als wolle sie es wirklich gerne wissen.
„Ich… ich bin Ellen Party. Eine Freundin von Cynthia. Sie sagte mir, ich soll Sie besuchen.“
Ruth Sanderford lächelte. Es war ein schönes Lächeln, warm und freundlich. Schlagartig war Ellens Nervosität verschwunden. „Natürlich. Sie hat mir von Ihnen erzählt.“
„Ich bin nur gekommen, um guten Tag zu sagen. Ich möchte Sie nicht stören, wenn Sie zu tun haben.“
„Sie stören mich nicht. Ich bin so gut wie fertig.“ Sie ging zum Sägebock zurück, bückte sich und lud ein Bündel frisch gesägte Holzscheite auf ihre kräftigen Arme. „Ich muß das nicht machen – mein Vorrat an Feuerholz reicht bis an die Decke –, aber ich habe zwei Tage geschrieben, und da tut ein bißchen körperliche Arbeit gut. Außerdem ist es so ein zauber hafter Morgen, da wäre es fast ein Verbrechen, im Haus zu bleiben. Kommen Sie herein, trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir.“
Sie ging auf dem Weg voran, machte eine Hand frei, um den Türknauf zu drehen, und stieß die Tür mit dem Fuß auf. Sie war so groß, daß sie den Kopf einziehen mußte, um sich nicht an dem Türsturz zu stoßen, aber Ellen, die erheblich kleiner war, brauchte sich nicht zu bücken, und erfüllt von verwun derter Erleichterung, daß das erste Bekanntwerden so mühe los verlaufen war, folgte sie Ruth Sanderford ins Haus und schloß die Tür.
Sie waren über zwei Stufen unmittelbar ins Wohnzimmer hinabgestiegen, das so lang und geräumig war, daß es den größten Teil des Erdgeschosses einnehmen mußte. An einem Ende war ein offener Kamin, am anderen ein großer Kirsch holztisch. Auf dem standen eine Schreibmaschine, Kartons mit Papier, Nachschlagewerke, ein Becher mit gespitzten Blei stiften und ein viktorianischer Krug mit getrockneten Blumen und Gräsern.
Ellen sagte: „Ein wunderschönes Zimmer.“
Ihre Gastgeberin stapelte die Holzscheite in einen bereits randvollen Korb und wandte sich dann Ellen zu.
„Entschuldigen Sie die Unordnung. Wie gesagt, ich habe gearbeitet.“
„Ich finde es nicht unordentlich.“ Schäbig vielleicht, ein bißchen unaufgeräumt, aber sehr einladend mit den büchergesäumten Wänden und abgeschabten alten Sofas, die zu beiden Seiten des Kamins standen. Und überall Fotografien und ausgefallene, schöne Gegenstände aus Porzellan. „Genau so soll ein Zimmer aussehen. Bewohnt und warm.“ Sie stellte ihren Korb auf den Tisch. „Ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Mar melade und Pastetenfüllung. Nichts Besonderes.“
„Oh, wie nett.“ Sie lachte. „Ein Vorweihnachtsgeschenk. Und mir ist die Marmelade ausgegangen. Bringen wir die Sa chen in die Küche, und ich setze Wasser auf.“
Ellen legte ihren Schaffellmantel ab und folgte Ruth durch eine Tür am hinteren Ende des Raumes in eine kleine, bescheidene Küche, die früher eine Waschküche gewesen sein mochte. Ruth ließ Wasser in den Kessel laufen und stellte ihn auf den Gasherd. Sie kramte in einem Schrank nach Kaffee und nahm zwei Becher von einem Bord. Dann brachte sie ein Blechtablett zum Vorschein, auf dem Carlsberg Lager geschrieben stand, mußte aber geraume Zeit suchen, bis sie den Zucker fand. Obwohl sie vier Kinder großgezogen hatte, war sie offensichtlich kein häuslicher Typ.
„Wie lange wohnen Sie schon hier?“ fragte Ellen.
„Schon einige Monate. Es ist himmlisch. So friedlich.“
„ Schreiben Sie an einem neuen Roman?“ Ruth grinste gequält. „Könnte man sagen.“
„Auf die Gefahr hin, daß es banal klingt, ich habe alle Ihre Bücher mit großem Vergnügen gelesen. Und ich habe Sie im Fernsehen gesehen.“
„Ach du liebe Zeit.“
„Sie waren gut.“
„Man hat mich neulich gebeten, eine Sendung zu machen, aber ohne Cosmo scheint es sinnlos. Wir waren ein richtiges Team. Im Fernsehen, meine ich. Ansonsten glaube ich, seit wir geschieden sind, sind wir beide
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