Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das blaue Zimmer

Das blaue Zimmer

Titel: Das blaue Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
Vom Netzwerk:
sie, spähte hinein, sah den Staub auf dem Toilettentisch, das Bett mit dem Stapel gefalteter Decken, die geschlossenen Fenster. Ohne Vickys Habe wirkte es seltsam unpersönlich, ein Zim mer, das irgend jemand oder niemandem gehörte. Wie sie so auf der Schwelle stand, wußte Ellen mit einemmal, ohne jeden Zweifel, daß Vicky in die Schweiz fahren würde. Daß Weihnachten irgendwie ohne sie überstanden werden mußte.
    Was würden sie machen, sie und James? Worüber würden sie reden, wenn sie jeder an einem Ende des Eßzimmertisches saßen, mit einem Truthahn, der zu groß zum Verspeisen war?
    Vielleicht sollte sie den Truthahn abbestellen und dafür Lammkoteletts bestellen. Vielleicht sollten sie verreisen, in eines dieser Hotels, die sich einsamer älterer Leute annahmen.
    Rasch machte sie die Tür zu, verschloß nicht nur Vickys ver lassenes Zimmer, sondern auch die erschreckenden Bilder von Alter und Einsamkeit, die uns alle einmal ereilen. Am anderen Ende des Treppenpodestes führte eine schmale Stiege auf den Dachboden. Ohne besondere Absicht ging Ellen die Stiege hin auf und durch die Tür, die auf den riesigen Speicher mit dem schrägen Dach führte. Er war leer bis auf ein paar Koffer und die Blumenzwiebeln, die sie fürs Frühjahr gesteckt hatte und die nun in dicke Schichten Zeitungspapier gehüllt waren. Dachgauben ließen die blassen Strahlen der niedrigstehenden Sonne herein, und es roch angenehm nach Holz und Kampfer.
    In einer Ecke stand ein Karton mit dem Christbaum schmuck. Aber würden sie dieses Jahr einen Baum haben? Es war immer Vickys Aufgabe gewesen, den Baum zu schmüc ken, und es schien wenig Sinn zu haben, wenn sie nicht da war. Überhaupt schien alles wenig Sinn zu haben.
    Sag ihr, ich habe Dir gesagt, Du solltest Dich mal bei ihr melden.
    Ihre Gedanken waren wieder bei Ruth Sanderford. Sie wohnte in Monk’s Thatch, ein kurzer Spaziergang über die vereisten Felder. Schön, sie war berühmt, aber Ellen kannte und liebte alle ihre Bücher, sie identifizierte sich mit den geplagten Müttern, den zornigen, mißverstandenen Kindern, den frustrierten Ehefrauen.
    Aber ich bin nicht frustriert.
    Der Speicher bildete einen wesentlichen Bestandteil der Idee, die sie gehabt hatte, des Vorhabens, das James so kurzer hand abgetan hatte, des Plans, den sie aufgegeben hatte, weil es keinen Menschen gab, der ihr ein wenig Mut zusprach.
    James und Vicky. Ihr Mann und ihr Kind. Urplötzlich hatte Ellen die beiden satt. Sie hatte es satt, sich Gedanken wegen Weihnachten zu machen, sie hatte das Haus satt. Sie sehnte sich nach Abwechslung. Sie würde gehen, auf der Stelle, und Ruth Sanderford besuchen. Bevor dieser neue Mut sich ver flüchtigte, ging sie hinunter, zog ihren Mantel an, legte ein Glas mit selbstgemachter Orangenmarmelade und eins mit Obstpastetenfüllung in einen Korb. Als begebe sie sich auf eine wagemutige, gefährliche Reise, trat sie in den eisigen Morgen hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.
     
     
    Es war ein schöner Tag geworden. Blaß und wolkenlos der Himmel, glitzernder Frost auf den kahlen Bäumen, die Acker furchen eisenhart. Saatkrähen krächzten hoch oben auf den Ästen, die eisige Luft war süß wie Wein. Ellens Stimmung stieg; sie schwenkte den Korb, genoß ihre wachsende Energie. Der Fußweg führte am Rand der Felder entlang, über hölzerne Zauntritte. Bald kam hinter den Hecken Trauncey in Sicht. Eine kleine Kirche mit einem spitzen Turm, eine Gruppe nied riger Häuser. Über den letzten Zauntritt, und sie war auf der Straße. Rauch stieg munter aus Schornsteinen, graue Federn in der stillen Luft. Ein alter Mann mit Pferd und Wagen klapperte vorüber. Sie sagten guten Morgen. Ellen ging auf der kurvigen Straße weiter.
    Das Schild „Zu verkaufen“ am Haus Monk’s Thatch war verschwunden. Ellen öffnete das Gartentor und ging den Ziegelweg entlang. Das Haus war langgestreckt und niedrig, sehr alt, ein Fachwerkhaus mit einem Strohdach, das wie Augen brauen über den kleinen Fenstern hing. Die Tür war blau ge strichen, mit einem Messingklopfer, und Ellen klopfte etwas beklommen, und als sie dastand und wartete, vernahm sie das Geräusch einer Säge.
    Niemand öffnete ihr, und nach einer Weile folgte sie dem Geräusch und traf im Hof neben dem Haus auf eine schwer ar beitende Gestalt. Eine Frau, die Ellen von ihren Auftritten im Fernsehen her sofort erkannte.
    Sie hob die Stimme und sagte: „Hallo.“
    Ruth Sanderford hörte zu sägen auf und blickte hoch. Einen

Weitere Kostenlose Bücher