Das blaue Zimmer
glücklicher. Und unsere Kinder auch. Als ich das letzte Mal mit ihm Mittag essen war, hat er mir erzählt, daß er daran denkt, wieder zu heiraten. Ein Mäd chen, das seit zwei Jahren bei ihm arbeitet. Sie ist so nett. Sie wird ihm eine wunderbare Frau sein.“
Es war ein wenig verwirrend, von einer Fremden sogleich derart ins Vertrauen gezogen zu werden, aber sie sprach so na türlich und herzlich, daß diese Vertraulichkeit ganz normal, sogar wünschenswert wirkte.
Während Ruth Kaffeepulver in die Becher löffelte, sprach sie weiter: „Wissen Sie, daß ich jetzt zum erstenmal in meinem Leben für mich allein lebe? Ich komme aus einer großen Familie, habe mit achtzehn geheiratet und bin sofort schwanger ge worden. Danach gab es keinen einzigen müßigen Augenblick. Menschen scheinen sich ganz außerordentlich zu vermehren. Ich hatte Freunde, und Cosmo hatte Freunde, und dann brach ten die Kinder ihre Freunde mit nach Hause, und die Freunde hatten Freunde, und so ging es weiter. Ich wußte nie, wie viele Personen ich zu verköstigen haben würde. Da ich keine beson ders gute Köchin bin, gab es meistens Berge von Spaghetti.“ Das Wasser kochte, sie füllte die Becher und nahm das Tablett. „Kommen Sie, gehen wir ans Feuer.“
Sie setzten sich einander gegenüber, eine jede in eine Ecke eines durchgesessenen Sofas, zwischen sich die Wärme des lodernden Feuers. Ruth trank einen Schluck Kaffee und stellte den Becher auf dem Tischchen ab, das zwischen ihnen stand. Sie sagte: „Das Schöne am Alleinleben ist unter anderem, daß ich kochen kann, wann ich will und was ich will. Bis zwei Uhr nachts arbeiten, wenn mir danach ist, und bis zehn schlafen.“ Sie lächelte. „Sind Sie schon lange mit Cynthia befreundet?“
„Ja, wir sind zusammen zur Schule gegangen.“
„Wo wohnen Sie?“
„Im Nachbardorf.“
„Haben Sie Familie?“
„Einen Mann und eine Tochter, Vicky. Das ist alles.“
„Denken Sie nur, ich werde bald Großmutter. Allein schon die Vorstellung finde ich erstaunlich. Es kommt mir vor, als sei es keine Minute her, seit mein ältestes Kind geboren wurde. Das Leben rast vorüber, nicht? Man hat nie Zeit, irgendwas zu machen.“
Es schien Ellen, daß Ruth so ungefähr alles gemacht hatte, aber sie sagte es nicht. Sie fragte vielmehr und wollte nicht, daß es wehmütig klang: „Kommen Ihre Kinder Sie besuchen?“
„0 ja. Sie hätten mich dieses Haus nicht kaufen lassen, be vor sie es gutgeheißen hatten.“
„Kommen sie auch für länger?“
„Einer meiner Söhne hat mir beim Umzug geholfen, aber jetzt ist er in Südamerika, ich vermute, ich werde ihn die näch sten Monate nicht sehen.“
„Und Weihnachten ?“
„Oh, Weihnachten bin ich allein. Sie sind jetzt alle erwach sen, führen ihr eigenes Leben. Vielleicht überfallen sie ihren Vater, wenn sie eine Übernachtungsmöglichkeit suchen, ich weiß es nicht. Ich weiß es nie, habe es nie gewußt.“ Sie lachte, nicht über ihre Kinder, sondern über ihre eigene Unwissenheit.
Ellen sagte: „Ich glaube nicht, daß Vicky Weihnachten nach Hause kommt. Sie wird wohl zum Skilaufen in die Schweiz fahren.“
Falls sie Mitgefühl oder Bedauern erwartete, wurde es ihr nicht zuteil. „Oh, das macht Spaß. Weihnachten in der Schweiz ist herrlich. Wir waren einmal mit den Kindern dort, als sie noch klein waren, und Jonas hat sich das Bein gebro chen. Was fangen Sie mit sich an, wenn Sie nicht Ehefrau und Mutter sind?“
Die unverblümte Frage kam überraschend und war etwas verwirrend. „Ich… ich tue eigentlich nichts… “ , gestand Ellen.
„Das nehme ich Ihnen nicht ab. Sie sehen ungeheuer tüch tig aus.“
Das war ermutigend. „Hm… ich gärtnere. Und ich koche. Und ich bin in ein paar Komitees. Und ich nähe.“
„Meine Güte, wie geschickt Sie sind, daß Sie sogar nähen können. Ich kann nicht mal eine Nadel einfädeln. Sie brauchen sich nur meine Schonbezüge anzusehen. Sie müssen alle ge flickt werden… nein, flicken lohnt sich nicht mehr. Am besten kaufe ich Chintz und lasse neue Bezüge machen. Nähen Sie sich Ihre Kleider selbst?“
„Nein, Kleider nicht. Aber Vorhänge und so.“ Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie hastig: „Wenn Sie wollen, kann ich Ihre Bezüge flicken. Ich mache es gerne für Sie.“
„Und neue? Könnten Sie auch neue machen?“
„Ja.“
„Mit Paspeln und allem?“
„ja.“
„Wollen Sie das tun? Professionell? Als Auftrag, meine ich. Nach Weihnachten, wenn Sie nicht mehr so
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