Das blaue Zimmer
jeden Morgen mit ihrem Gurren und Flattern und ihren Sturzflügen geweckt. Am letzten Tag ihrer Hochzeitsreise waren sie einkaufen gegangen, und Walter hatte ihr ein Paar Pfauentauben aus weißem Porzellan gekauft, die heute noch den Kaminsims im Wohnzimmer schmückten. Sie gehörten zu Eves kostbarstem Besitz.
Weiße Vögel. Im Krieg, als sie ein Kind war, war ihr älterer Bruder als vermißt gemeldet gewesen. Angst und Sorge hatten sich im Haus ausgebreitet und jegliche Geborgenheit zunichte gemacht. Bis zu dem Morgen, als sie aus ihrem Schlafzimmer fenster die Möwe auf dem Dach des Hauses gegenüber sitzen sah. Es war Winter, und die Sonne war soeben wie ein schar lachroter Feuerball am Himmel aufgestiegen, und als die Möwe plötzlich aufflog, sah Eve die Unterseite der Schwingen rosig gefleckt. Das unerwartete Entzücken über diese wunder bare Schönheit gab ihr ein tröstliches Gefühl. Da wußte sie, daß ihr Bruder lebte, und als ihre Eltern eine Woche später erfuhren, daß er heil und gesund war, wenngleich in Kriegsgefangenschaft, konnten sie nicht verstehen, warum Eve die Nachricht so gelassen aufnahm. Aber von der Möwe erzählte sie ihnen nichts.
Und diese Möwen hier…? Sie hatten Eve nichts zu geben, spendeten keine Zuversicht. Sie wandten die Köpfe, blickten suchend auf den leeren Sand, erspähten in der Ferne einige Bröckchen eßbaren Abfalls, schrien, breiteten ihre schneewei ßen Schwingen aus und segelten kreisend auf den Armen des Windes von dannen.
Sie seufzte, sah auf ihre Uhr. Es war Zeit, umzukehren. Sie pfiff nach den Hunden und trat den langen Heimweg an.
Es war beinahe dunkel, als der Zug in den Bahnhof einfuhr, aber sie sah ihren großgewachsenen Schwiegersohn, der sie auf dem Bahnsteig erwartete. Er stand unter einer Lampe, in einer alten Arbeitsjacke, den Kragen zum Schutz vor dem Wind hochgeschlagen. Eve verließ den warmen Zug und spürte den Wind, der auf diesem Bahnhof stets schneidend blies, sogar mitten im Sommer.
Ihr Schwiegersohn trat zu ihr. „Eve.“ Sie gaben sich einen Kuß. Seine Wange war eiskalt, und Eve fand, er sah schrecklich aus, dünner denn je, ohne jede Farbe im Gesicht. Er nahm ihren Koffer. „Ist das dein ganzes Gepäck?“
„Ja, das ist alles.“
Schweigend gingen sie den Bahnsteig entlang, die Treppe hinauf und auf den Platz hinaus, wo sein Wagen wartete. Er warf den Koffer in den Kofferraum, öffnete die Beifahrertür. Erst als der Bahnhof hinter ihnen lag und sie auf der Landstraße waren, wappnete Eve sich für die Frage: „Wie geht es Jane?“
„Ich weiß es nicht. Niemand will etwas Bestimmtes sagen. Ihr Blutdruck ist gestiegen, damit hat alles angefangen.“
„Kann ich sie sehen?“
„Frühestens heute abend, hat die Schwester gesagt. Viel leicht morgen früh.“
Es gab nicht mehr viel zu sagen. „Und was macht Jamie?“
„Ihm geht’s gut. Nessie Cooper hat sich sehr lieb um ihn ge kümmert, zusammen mit ihrer eigenen Horde.“ Nessie war mit Tom Cooper verheiratet, Davids Vorarbeiter. „Er freut sich auf dich.“
„Ein lieber kleiner Junge.“ Im Dunkel des Wagens rang sie sich ein Lächeln ab. Ihr Gesicht fühlte sich an, als hätte es seit Jahren nicht gelächelt, aber um Jamies willen war es wichtig, heiter und gelassen zu wirken, einerlei, was für Schreckensvor stellungen ihr durch den Kopf gingen.
Als sie ankamen, saßen Jamie und Mrs. Cooper im Wohn zimmer beim Fernsehen. Jamie hatte seinen Bademantel an und trank Kakao, aber als er die Stimme seines Vaters hörte, stellte er den Becher hin und ging ihnen in der Diele entgegen, teils, weil er Eve gern hatte und sich auf das Wiedersehen freute, und teils, weil er sich ziemlich sicher war, daß sie ihm etwas mitgebracht hatte.
„Hallo, Jamie.“ Sie gaben sich einen Kuß. Jamie roch nach Seife.
„Granny, ich hab heute bei Charlie Cooper Mittag geges sen, er ist sechs und hat schon Fußballstiefel.“
„Grundgütiger Himmel! Mit richtigen Stollen?“
„Ja, genau wie die Großen, und er hat einen Fußball und läßt mich mit ihm spielen, und ich kann schon fast einen Drop kick.“
„Da kannst du mehr als ich“, meinte Eve.
Sie setzte ihren Hut ab, und während sie ihren Mantel auf knöpfte, kam Mrs. Cooper aus dem Wohnzimmer und nahm ihren eigenen Mantel von dem Stuhl in der Diele.
„Nett, daß man sich mal wieder sieht, Mrs. Douglas.“
Sie war eine adrette, schlanke Frau und sah viel zu jung aus für eine Mutter von vier Kindern – oder
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