Das blaue Zimmer
Flug beobachteten.
„Sie sollen nicht kommen!“ Jamie hörte sich panisch an. Er entzog Eve seine Hand und stolperte mit seinen kurzen, gum migestiefelten Beinchen los, ruderte mit den Armen, ver suchte, die Vögel abzulenken, fort von den Gewehren. „Fliegt weg, fliegt weg, nicht herkommen!“
Eve meinte ihn bremsen zu müssen, aber es erschien ihr we nig sinnvoll. Nichts auf der Welt konnte diesen Flug aufhalten. Zudem war etwas Ungewöhnliches an den Vögeln. Normalerweise führte die Fluglinie der Wildgänse von Norden nach Süden, diese Schar aber näherte sich von Osten, von der See her, und mit jeder Sekunde wurden sie größer. Einen Moment ge riet Eves natürliches Entfernungsempfinden durcheinander, und dann ging ihr auf einmal ein Licht auf, und sie sah, daß die Vögel gar keine Gänse waren, sondern zwölf weiße Schwäne.
„Es sind Schwäne, Jamie. Schwäne.“
Er stand auf der Stelle still, legte den Kopf zurück, um sie vorüberfliegen zu sehen. Sie kamen näher, die Luft war erfüllt vom Trommeln und Schlagen ihrer mächtigen Schwingen. Eve sah die vorgestreckten langen weißen Hälse, die hochgezoge nen, rückwärts angelegten Beine. Und dann waren sie vorüber, flogen flußaufwärts, und ihre Flügelschläge wurden immer leiser, bis sie schließlich verschwunden waren, vom Grau des Morgens, von den fernen Hügeln verschluckt.
„Granny?“ Jamie schüttelte sie am Ärmel. „Granny, du hörst mir ja gar nicht zu.“ Sie sah auf ihn hinunter. Es war, als blicke sie zu einem Kind herab, das sie noch nie gesehen hatte. „Granny, die Jäger haben sie nicht totgeschossen.“
Zwölf weiße Schwäne. „Auf Schwäne dürfen sie nicht schie ßen. Schwäne gehören der Königin.“
„Gott sei Dank. Sie waren so schön.“
„Ja, o ja.“
„Wo fliegen sie hin?“
„Ich weiß nicht. Flußaufwärts. In die Berge. Vielleicht gibt es dort einen verborgenen See, wo sie fressen und nisten.“ Aber sie sagte es geistesabwesend, weil sie nicht an die Schwäne dachte. Sie dachte an Jane, und auf einmal war es ungeheuer dringend, daß sie keine Zeit verloren, nach Hause zu kommen.
„Komm, Jamie.“ Sie nahm ihn bei der Hand, und ihn hinter sich herziehend, strebte sie eilends auf dem grasbewachsenen Hang zum Zauntritt. „Laß uns umkehren.“
„Aber wir haben unseren Spaziergang noch gar nicht ge macht.“
„Wir sind weit genug gelaufen. Beeilen wir uns. Mal sehen, wie schnell wir sind.“
Sie stiegen über den Zauntritt und liefen über das Stoppel feld. Jamies kurze Beinchen taten tapfer ihr Bestes, um mit sei ner Großmutter Schritt zu halten. Sie durchquerten den Obst garten, ohne stehenzubleiben, um nach Fallobst zu sehen oder auf die verhutzelten alten Bäume zu klettern.
Jetzt gelangten sie zu dem Fahrweg, der zum Bauernhaus führte. Jamie war erschöpft, er konnte nicht mehr laufen und blieb stehen, um gegen ein so ungewöhnliches Ansinnen zu protestieren. Aber Eve ertrug es nicht, zu warten, sie hob ihn auf die Arme und eilte weiter; sein Gewicht spürte sie kaum.
Sie kamen endlich nach Hause, gingen durch die Hintertür hinein, blieben nicht einmal stehen, um ihre schmutzigen Stie fel auszuziehen. Über die hintere Veranda in die warme Küche, wo das Baby noch friedlich in seinem Kinderwagen saß und Mrs. Cooper am Spülstein Kartoffeln schälte. Sie drehte sich um, als sie hereinkamen, und in diesem Moment klingelte das Telefon. Eve stellt Jamie auf die Füße und sauste zum Apparat. Schon beim zweiten Klingeln hielt sie den Hörer in der Hand.
„Ja.“
„Eve, ich bin’s, David. Es ist alles vorbei. Alles in Ordnung. Wir haben wieder einen kleinen Jungen. Es hat ihn arg mitgenommen, aber er ist kräftig und gesund, und Jane ist wohlauf. Ein bißchen müde, aber sie ist schon wieder in ihrem Bett, und du kannst sie heute nachmittag besuchen.“
„Oh, David… “
„Kann ich Jamie sprechen?“
„Natürlich.“
Sie reichte dem kleinen Jungen den Hörer. „Es ist Daddy. Du hast ein Brüderchen bekommen.“ Sie wandte sich Mrs. Coo per zu, die starr verharrte, ein Messer in der einen und eine Kar toffel in der anderen Hand. „Es geht ihr gut, Mrs. Cooper. Es geht ihr gut.“ Am liebsten hätte sie Mrs. Cooper umarmt, ihre rosigen Wangen mit Küssen bedeckt. „Es ist ein Junge, und alles ist gutgegangen. Sie hat es überstanden, und… “
Sie war am Ende. Sie konnte nichts mehr sagen. Und sie konnte Mrs. Cooper nicht mehr sehen, weil ihre Augen voll Tränen
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