Das blaue Zimmer
Telefonleitung tot. Und Will weit weg in Truro. Sie sahen sich stumm an, das Schweigen war mit Bangen und Bestürzung befrachtet.
Er wußte, daß er etwas tun mußte. „Ich geh ins Dorf. Ich kletter durch den Baum oder geh außen rum über die Heide.“
„Nein.“ Sie hatte sich wieder in der Gewalt und nahm zum Glück die Sache in die Hand. Sie setzte sich auf, schwang die Beine über die Bettkante. „Das würde zu lange dauern… “
„Kommt das Baby bald?“
Sie brachte ein Grinsen zustande. „Nicht sofort. Ein Weilchen halte ich schon noch durch. Aber ich glaube, wir sollten keine Zeit verlieren.“
„Dann sag mir, was ich tun soll.“
„Ben Fox holen“, sagte Sarah. „Du findest den Weg, du warst gestern mit Will oben. Sag, er soll kommen und uns helfen – und er muß seine Kettensäge mitbringen, für den Baum.“
Ben Fox holen. Oliver sah seine Schwester entsetzt an. Ben Fox holen… allein im Nebel den Hügel hinaufgehen, um Ben Fox zu holen. Hatte sie eine Ahnung, was sie da von ihm ver langte? Aber während er so dastand, zog sie sich vorsichtig hoch, legte die Hände auf die große Wölbung ihres Bauches, und ihn überkam eine seltsame Woge von Beschützerinstinkt, so als sei er kein Junge, sondern ein erwachsener Mann.
Er sagte: „Hältst du’s durch?“
„Ja. Ich mach mir eine Tasse Tee und setze mich ein biß chen hin.“
„Ich mach so schnell ich kann. Ich renn den ganzen Weg.“
Er dachte daran, Wills Schäferhund mitzunehmen, aber der Hund gehorchte nur seinem Herrn und wollte den Hof nicht verlassen. Also machte Oliver sich allein auf den Weg in Richtung der Felder, die er gestern mit Will überquert hatte. Trotz des Nebels war das erste Stück nicht schwierig, und er fand sogleich die Lücke in der Mauer, wo sie den provisorischen Zaun angebracht hatten, aber als er darübergeklettert war und sich in dem Unterholzgewirr befand, wurde es schwierig. Der Wind schien hier oben grimmiger denn je, der Regen noch kälter. Es regnete ihm in die Augen, so daß er fast nichts mehr sah, und er konnte den Pfad nicht finden, konnte nicht über seine Nasenspitze hinaussehen. Jeglicher Entfernungs- und Richtungssinn war ihm abhanden gekommen. Er stolperte über Dornen, Stechginster riß an seinen Beinen, und mehr als einmal rutschte er im Schlamm aus und fiel hin, wobei er sich schmerzhaft die Knie aufschürfte. Aber irgendwie kämpfte er sich voran, kletterte unermüdlich bergauf. Er sagte sich, er müsse nur oben ankommen, danach würde es leicht sein. Er würde Ben Fox’ Haus finden. Er würde Ben Fox finden.
Nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, langte er endlich am Fuß der Felsblöcke an. Er hob die Hände und lehnte sich an die feste Granitwand, die naß und kalt war und steil wie eine Klippe. Der Pfad war wieder verschwunden, und Oliver wußte, er mußte die Schlucht finden. Aber wie? Außer Atem, taillentief in Stechginster, ohne Orientierung, war er mit einemmal von einer Panik ergriffen, die durch seine Ver lorenheit und das verzweifelte Gefühl der Dringlichkeit noch verstärkt wurde, und er hörte sich wimmern wie ein Baby. Er biß sich auf die Lippe, schloß die Augen und dachte ange strengt nach, danach tastete er sich um den Felsen herum, in dem er sich dicht an ihn drückte. Nach einer Weile machte der Fels eine Einwärtsbiegung, und als Oliver nach oben blickte, sah er die zwei Wände der Schlucht zu dem grau verhangenen, strömenden Himmel aufragen.
Mit einem Seufzer der Erleichterung begann er auf allen vie ren den steilen Pfad hinaufzukriechen. Er war schmutzig, blu tig und naß, aber er hatte den Weg gefunden. Er war auf der Kuppe, und konnte er das Haus auch nicht sehen, so wußte er doch, daß es da war. Er begann zu rennen, stolperte, fiel, stand auf und rannte weiter. Dann bellte der Hund, und aus dem Nebel tauchte der Umriß des Daches auf, der Schornstein, das Licht im Fenster.
Er war an der Mauer, am Gartentor. Als er sich mit dem Rie gel abmühte, ging die Haustür auf, der bellende Hund stürzte zu ihm hinaus, und da stand Ben Fox.
„Wer ist da?“
Er ging den Weg zum Haus. „Ich bin’s.“
„Was ist passiert?“
Atemlos, matt vor Erleichterung, plapperte Oliver unzu sammenhängend los.
„Jetzt hol erst mal tief Luft. Dann geht’s schon wieder.“ Ben hielt Oliver an den Schultern, hockte sich vor ihn hin, so daß ihre Augen auf gleicher Höhe waren. „Was ist passiert?“
Oliver atmete tief ein und stieß die Luft
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