Das Blut - Del Toro, G: Blut - The Fall
dünnstielige Sonnenblume, die unter dem Gewicht ihrer Blüte zusammenbricht.
Die dritte Stufe war das Summen . Die Stimmen des Schwarmbewusstseins. Die Stimmen all der verdammten Seelen, die sich der Meister einverleibt hatte. Er konnte sie nun hören.
»Nein«, schrie Setrakian, doch kein Laut drang aus seinem Mund.
Die Hitze seines sich verwandelnden Körpers verband sich nun mit der Hitze, die vom Boden ausging. Das Kühlsystem, das eine Kernschmelze verhindern sollte, war ausgefallen - nein, abgeschaltet worden -, und der Reaktorkern überhitzte. Wenn das schmelzende Kernmaterial das Grundwasser erreichte, würde der Dampfdruck die gesamte Anlage zur Explosion bringen und eine Wolke radioaktiven Materials freisetzen.
Setrakian.
Jetzt war die Stimme des Meisters in Setrakians Kopf.
Und er war im Kopf des Meisters.
Er sah seinen Gehstock - Jusef Sardus Gehstock - nur wenige Zentimeter vor sich über den Boden klappern. Die Sicht war verschwommen, die Farben waren wild durcheinandergewirbelt und flimmerten - und doch schien es ihm, als könnte er, wenn er die Hand ausstreckte, den Stock ein letztes Mal berühren.
Pick-pick-pick.
Setrakian sah durch die Augen des Meisters.
Du alter Narr. Hast du gedacht, du könntest mich töten, indem du dein Blut vergiftest?
Jetzt erkannte Setrakian die Ladefläche eines Lastwagens, eines der Militärfahrzeuge, die vor dem Reaktor geparkt hatten. Er rappelte sich auf, spürte wie ihm die Verwandlung neue Kräfte verlieh.
Pick-pick.
Setrakian konzentrierte sich. Formte einen Gedanken: Ich habe dich überrascht. Ein weiteres Mal habe ich dich geschwächt. Er war sich sicher, dass der Meister ihn hören konnte.
Du bist verwandelt, Abraham Setrakian. Du bist einer von uns. Ich habe gewonnen.
Die Ladefläche des Lastwagens wurde durchgerüttelt, und das Bild vor Setrakians Augen wurde unscharf, als würde das Wesen, in dessen Kopf er war, von Schmerzen gepeinigt. Dann fuhr der Lastwagen los, entfernte sich von dem Gebäude.
Setrakian dachte: Ich habe Sardu erlöst. Und bald werde auch ich erlöst sein. Dann kroch er auf allen vieren aus dem Kontrollraum und auf den Reaktorkern zu, sein Geist erfüllt von tausend Augen und tausend Stimmen. Sie waren alle hier, in ihm.
Der Druck stieg rasant an. In wenigen Sekunden würde
die Blase aus giftigem Wasserstoff platzen, und der Schutzwall aus Stahlbeton würde die Explosion nur noch gewaltiger machen. Setrakian stand auf und presste die Hände gegen das Metall. Es waren keine verkrüppelten Hände mehr, sondern die Klauen eines neugeborenen Vampirs …
Pick.
»Schweig, strigoi !«
In diesem Moment erreichte das schmelzende Kernmaterial das Grundwasser. Der Druckbehälter barst, der Reaktor - und damit die Herkunftsstätte des letzten noch verbliebenen Alten - explodierte, und eine riesige radioaktive Wolke stieg über Long Island auf.
Und Abraham Setrakian stürzte in die tiefste aller Dunkelheiten.
Gabriel Bolivar, ehemaliger Rockstar und der letzte der vier Überlebenden des Regis-Air-Fluges 753 - jenes Fluges, mit dem alles seinen Anfang genommen hatte -, wartete in der finsteren Kammer unter dem Schlachthof.
Der Meister hatte ihn gerufen.
Er war bereit.
Gabriel, mein Kind.
Die Stimmen in ihm summten in perfekter Harmonie. Nur die des alten Mannes - die von Abraham Setrakian - war für immer verstummt.
Gabriel. Der Name eines Erzengels. Wie passend …
Bolivar spürte die Nähe seines dunklen Vaters. Er war auf dem Weg hierher. Die Schlacht auf der Oberfläche war gewonnen, jetzt mussten sie nur noch abwarten, bis sich die Asche über ihrer neuen Welt gelegt hatte.
Der Meister betrat den Raum, ging langsam auf Bolivar zu, beugte sich über ihn. Bolivar wusste - hatte es längst gespürt -, dass der Körper des Meisters nutzlos geworden war, dass die Hülle von Jusef Sardu ihren Zweck erfüllt hatte. Der
Köper des Meisters starb, aber sein Geist - sein Wort - war so mächtig wie eh und je.
Du wirst in mir leben, Gabriel. In meiner Stimme, in meinem Atem, in meinem Durst. Und wir werden in dir leben. Unser Geist wird in deinem ruhen, und unser Blut wird sich vereinigen.
Der Meister schüttelte seinen Mantel ab. Dann streckte er den Arm aus, griff in den Sarg und holte eine Handvoll Erde heraus, die er in Bolivars geöffneten Mund stopfte.
Und du bist mein Sohn und ich bin dein Vater. Und wir werden herrschen als Ich und Wir in Ewigkeit.
Jetzt nahm der Meister Bolivar in seine gewaltigen Arme.
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