Das Blut - Del Toro, G: Blut - The Fall
Witzen und Geschichten zu unterhalten. Für die meisten war es die erste Reise, die sie ohne Begleitung ihrer Eltern unternahmen.
Im ganzen Stadtgebiet waren die Patientenberichte der Notaufnahmen gesichtet worden, um diese Kinder aufzuspüren. Sie alle waren von der Sonnenfinsternis geblendet worden und hatten massive Sehschäden davongetragen, und nun sollten sie in einer speziell dafür eingerichteten Schule lernen, mit ihrer Blindheit umzugehen. Die Palmer Foundation übernahm sämtliche Kosten dieses Programms.
Die Gruppe umfasste auch neun Betreuer, St.-Lucia-Absolventen, die gerade die Volljährigkeit erreicht hatten und deren Sehschärfe bei weniger als 20/200 auf dem Snellen-Index lag - was sie vor dem Gesetz als blind gelten ließ, obwohl sie in der Lage waren, Lichtveränderungen wahrzunehmen. Somit war der Fahrer der Einzige an Bord, der sehen konnte.
Es ging nur langsam voran - der Großraum New York hatte sich in den letzten Tagen in einen einzigen Verkehrsstau verwandelt -, also plauderte der Fahrer unverdrossen vor sich hin, erzählte den Kindern, was draußen so zu sehen war, und schmückte das alles mit blumigen Worten und erfundenen Details aus. Er arbeitete schon lange für das Blindenheim und hatte kein Problem damit, den Clown zu spielen; er wusste, dass man das Potenzial dieser traumatisierten Kinder am besten aktivierte, wenn man ihre Fantasie anregte und sie ins Geschehen um sie herum mit einbezog. Und im Übrigen hatten Witze noch niemandem geschadet.
»Klopf-klopf.«
»Wer ist da?«
»Werner.«
»Werner wer?«
»Wer nervt mich mit diesen Klopf-Witzen?«
Auch die Essenspause bei McDonald’s ging ohne Probleme vonstatten - bis auf die Tatsache, dass die Spielzeugbeigabe im Happy Meal ausgerechnet eine Hologrammkarte war. Der Fahrer saß etwas abseits der Gruppe und beobachtete, wie die Kinder vorsichtig nach ihren Pommes tasteten; sie hatten noch nicht gelernt, ihr Essen im Uhrzeigersinn anzuordnen. Dafür hatten sie - anders als Kinder, die blind zur Welt kommen - alle schon einmal einen McDonald’s gesehen und waren mit den Plastikdrehstühlen und den überdimensionierten Strohhalmen vertraut.
Die normalerweise dreistündige Fahrt dauerte angesichts des Verkehrs doppelt so lange. Die Betreuer sangen mit den
Kindern oder spielten ihnen Audiobücher vor. Einige der ganz Jungen, deren innere Uhr durch die plötzliche Erblindung völlig durcheinandergeraten war, saßen reglos in ihren Sitzen - schwer zu sagen, ob sie wach waren oder schliefen.
Erst als der Bus die Bundesstaatsgrenze überquert hatte, ging es schneller vorwärts. Die Betreuer bemerkten die Veränderung des Lichts: Es wurde allmählich Abend. Nach einigen Kilometern bremste der Bus plötzlich so scharf, dass Kuscheltiere und Trinkbecher auf den Boden fielen, fuhr an die Seite und hielt an.
»Was ist los?«, fragte Joni, eine vierundzwanzigjährige Hilfslehrerin und die Hauptbetreuerin. Sie saß direkt hinter dem Fahrer.
»Keine Ahnung«, erwiderte der Mann. »Das ist seltsam. Bleiben Sie hier, ich bin gleich wieder da.«
Der Fahrer war plötzlich verschwunden, doch die Betreuer hatten keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Wie bei jedem Halt meldeten sich auch jetzt sofort etliche Kinder, die Hilfe in der Toilette benötigten.
Etwa zehn Minuten später kehrte der Fahrer zurück, setzte sich hinter das Steuer und fuhr weiter - ohne ein Wort zu sagen oder darauf Rücksicht zu nehmen, dass noch nicht alle Kinder auf der Toilette gewesen waren. Jonis Bitte, kurz zu warten, ignorierte er schweigend. Doch schließlich war jeder wieder auf seinem Platz, ohne dass größere Katastrophen passiert waren.
Im Bus herrschte nun eine unheimliche Stille. Die Lautsprecher waren verstummt, der Fahrer verzichtete auf seine Witze und antwortete auch nicht mehr auf Jonis Fragen. Sie machte sich Sorgen, wollte die Kinder jedoch nicht beunruhigen. Gebetsmühlenartig wiederholte sie in Gedanken, dass der Bus mit angemessener Geschwindigkeit weiterfuhr, dass sie ihr Ziel bald erreicht haben würden …
Einige Zeit später bogen sie auf einen holprigen Feldweg. Die Kinder mussten sich festhalten, Getränkebecher kippten
um, Limonade schwappte über den Boden. Etwa eine Minute lang mussten sie diese Tortur ertragen, dann kam der Bus abrupt zum Stehen, der Motor wurde abgestellt, und sie hörten, wie sich die Vordertür mit einem pneumatischen Zischen öffnete. Ohne jedes Wort verschwand der Fahrer; das Klimpern seines
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