Das Blut - Del Toro, G: Blut - The Fall
Ausgestoßenen. Ein durchgeknallter Fanatiker. Tatsächlich lebte er schon länger als jeder andere hier unten und behauptete von sich, er könne an jeden beliebigen Punkt der Stadt gelangen, ohne auch nur ein einziges Mal das Tunnelsystem verlassen zu müssen - und trotzdem schaffte er es nicht einmal, zu urinieren, ohne dabei die eigenen Schuhe zu treffen.
Cray-Z bedeutete Eph und Vasiliy, ihm zu folgen. Sie gingen die Gleise entlang zu einem kleinen Zelt aus Segeltuch und Holzpaletten, in das Cray-Z hineinkroch. Vasiliy sah sich um. Alte, rissige Verlängerungskabel führten zur Tunneldecke, wo sie auf abenteuerliche Weise mit dem Stromnetz der Stadt verbunden waren. Ein leichter Regen ging in diesem Teil des Tunnels nieder - Wasser aus undichten Rohren. Es benetzte nicht nur den Boden, sondern sammelte sich auch auf Cray-Zs Zeltplane und lief von dort in eine eigens aufgestellte Plastikflasche.
Cray-Z kam wieder zum Vorschein, einen dieser alten lebensgroßen Pappaufsteller in Händen, die den ehemaligen Bürgermeister von New York City, Ed Koch, zeigten - unverkennbar das breite »Na, wie war ich?«-Grinsen des Politikers aus einer fast schon vergessenen Epoche. »Hier, halt mal«, sagte Cray-Z und gab Eph den Aufsteller. Dann führte er die beiden Männer zu einem etwas abseits liegenden Tunnel und deutete die Gleise hinunter. »Da drin sind sie alle verschwunden.«
»Wer? Die Leute?« Eph stellte Bürgermeister Koch neben sich ab. »Sie sind da im Tunnel?«
Cray-Z lachte. »Nicht im Tunnel, du Idiot. Durch den Tunnel. Da, wo die Rohre um die Biegung verlaufen, geht’s unter dem East River rüber nach Governor’s Island. Und dann wieder aufs Festland nach Brooklyn bei Red Hook. Da haben sie sie hingebracht .«
»Hingebracht? Wer … wer hat sie dort hingebracht?« In diesem Augenblick leuchtete in der Nähe ein Bahnsignal auf. Eph zuckte zusammen. »Ist dieses Gleis noch in Betrieb?«
»Die Linie 5 wendet hier«, sagte Vasiliy.
Cray-Z spuckte auf die Gleise. »Der Mann kennt seinen Fahrplan.«
Die Lichter des herankommenden Zugs wurden heller, beleuchteten die alte Station, erweckten sie kurzzeitig zum Leben. Bürgermeister Koch erzitterte.
»Jetzt seht genau hin«, sagte Cray-Z. »Nicht blinzeln!« Mit einer Hand bedeckte er das blinde Auge und setzte wieder sein zahnloses Lächeln auf.
Der Zug donnerte an ihnen vorbei - die Waggons praktisch leer, nur ein oder zwei Fahrgäste waren zu erkennen, die verloren in den Wagen standen. Durchreisende aus der Welt über der Erde.
Als das Ende des Zugs in Sicht kam, packte Cray-Z plötzlich Ephs Unterarm. »Da. Jetzt! «
Im flackernden Licht des Zuges sahen Eph und Vasiliy etwas am äußersten Ende des letzten Wagens hängen. Aneinandergedrängte Gestalten, Körper, die sich an die Außenhülle klammerten wie gespenstische Putzerfische an einen Metallhai.
»Habt ihr das gesehen?«, rief Cray-Z. »Habt ihr sie gesehen? Das sind die Anderen .«
Eph riss sich aus Cray-Zs Umklammerung und entfernte sich etwas von ihm und Bürgermeister Koch. Der Zug bog um die Ecke und verschwand in der Dunkelheit; das Licht versickerte im Tunnel wie Wasser in einem Abfluss.
Gestikulierend lief Cray-Z zu seinem Zelt zurück. »Da muss man doch was tun!«, rief er. »Das sind die Engel der Finsternis am Ende der Zeit. Sie werden uns alle holen, wenn wir uns nicht wehren!« Und weg war er.
Vasiliy machte ein paar zögerliche Schritte die Gleise entlang, dann blieb er stehen und drehte sich zu Eph um. »Die
Tunnel. So verlassen sie also die Insel. Vampire können kein fließendes Wasser überqueren, richtig? Jedenfalls nicht ohne fremde Hilfe.«
Eph nickte. »Sie nehmen einfach den Weg unter dem Wasser hindurch.«
»Tja, der Fortschritt macht vor nichts Halt. Und da sieht man mal wieder, was er für Probleme mit sich bringt. Wie nennt man das - wenn man mit etwas durchkommt, nur weil sich noch niemand ein spezielles Verbot dafür ausgedacht hat?«
»Ein Schlupfloch.«
»Genau. Und das hier …« Vasiliy breitete die Arme aus und drehte sich einmal im Kreis. »Das hier ist ein gigantisches Schlupfloch.«
Der Bus
Der mit allem Komfort ausgestattete Reisebus verließ das St.-Lucia-Blindenheim in New Jersey am frühen Nachmittag - auf dem Weg zu einer exklusiven Bildungseinrichtung in Upstate New York. Der Fahrer bemühte sich nach Kräften, seine Passagiere, etwa sechzig Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren, mit einem schier unerschöpflichen Vorrat an abgedroschenen
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