Das Blut - Del Toro, G: Blut - The Fall
bis zu dem Aufstand hatte er das Lager nie verlassen, und nach seiner Flucht hatte er sich sofort in die tiefen Wälder geschlagen. Er sah sich nach den Bahngleisen um, aber offensichtlich waren sie demontiert worden. Nur eine breite Schneise, die sich wie eine Narbe durch die Äcker zog, erinnerte noch an die grauenvollen Szenen, die sich hier vor über einem Jahr abgespielt hatten.
Kurz vor der nächsten Abzweigung kletterte Setrakian vom Wagen und segnete den Bauern, der ihn kutschiert hatte.
»Bleiben Sie nicht zu lange hier, Pater«, sagte der Mann und schnalzte mit den Zügeln. »Dieser Ort ist verflucht.«
Setrakian sah eine Weile der Kutsche nach, dann ging er den ausgetrampelten Pfad hinauf. Bald erreichte er ein einfaches Bauernhaus aus Ziegelsteinen, das neben einem überwachsenen Acker stand, auf dem gerade einige Arbeiter beschäftigt waren. Das Lager war nie als ständige Einrichtung geplant gewesen - es sollte seinen Zweck erfüllen und dann dem Erdboden gleichgemacht werden. Man hatte es mit einem falschen Bahnhof samt Schalterattrappe und fiktivem Fahrplan getarnt, und über seine Insassen waren keine Akten geführt worden. Als ob es sie nie gegeben hätte.
Anders als geplant, wurde das Lager kurz nach dem Gefangenenaufstand im Sommer 1943 aufgelöst und im darauf folgenden Herbst endgültig demontiert. Das Gelände wurde unterpflügt und darauf aus dem Material der abgerissenen Baracken ein Gehöft errichtet. Das sollte die örtliche Bevölkerung daran hindern, dort herumzuschnüffeln oder gar nach Wertsachen zu graben. Ein Ukrainer namens Strebel, der als Wachposten im Lager gedient hatte, wurde als Pächter eingesetzt. So wie die anderen ukrainischen Wachen war auch er ein ehemaliger Kriegsgefangener der Russen, den die Deutschen nach seiner Befreiung zur Zwangsarbeit verpflichtet hatten. Setrakian hatte mit eigenen Augen gesehen, wie diese ehemaligen Gefangenen - vor allem jene mit deutschen Wurzeln, denen größere Verantwortung übertragen wurde - den Versuchungen der Macht erlegen waren und sich entweder ihren sadistischen Neigungen hingegeben oder an den Gefangenen bereichert hatten.
Setrakian konnte sich nicht mehr an Strebels Gesicht erinnern - die schwarze Uniform des Ukrainers, sein Gewehr und seine Grausamkeit jedoch hatte er nur allzu deutlich vor Augen. Er hatte gehört, dass Strebel und seine Familie den Hof auf der Flucht vor der anrückenden Roten Armee verlassen
hatten, doch als er als Landpfarrer getarnt in einem etwa sechzig Kilometer entfernten Ort untergekommen war, waren ihm ganz andere Geschichten zu Ohren gekommen. Man erzählte sich, dass eine böse Macht die Gegend rund um das ehemalige Lager heimsuchte und dass Strebel und seine Angehörigen von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden waren und ihre Habseligkeiten zurückgelassen hatten.
Dieses Gerücht ließ Setrakian aufhorchen.
Er war davon überzeugt gewesen, dass er im Lager - wenn nicht vollständig, so doch teilweise - den Verstand verloren hatte. War das, was er gesehen hatte, wirklich geschehen? Oder hatte ihm seine Fantasie einen bösen Streich gespielt? War diese gespenstische Gestalt, dieser riesige Vampir, der sich an den Gefangenen gütlich getan hatte, nur ein Produkt seines Unterbewusstseins gewesen, ein Golem, den sein Gehirn erschaffen hatte, um mit der Barbarei um ihn herum fertigzuwerden?
War es so? Oder hatte sich das alles tatsächlich ereignet?
Erst jetzt, über ein Jahr später, fühlte er sich stark genug, um nach der Antwort zu suchen.
Er ging am Bauernhaus vorbei auf die Arbeiter zu. Während er über das Feld lief, begriff er, dass es gar keine Arbeiter waren, sondern Einheimische, die auf der Suche nach Gold, Juwelen und anderen von den Besatzern zurückgelassenen Wertsachen das Feld umgruben - aber außer rostigem Stacheldraht und Knochen nichts fanden.
Die Männer beäugten ihn misstrauisch, als würde allein seine Anwesenheit ein ungeschriebenes Plünderergesetz verletzen. Seine Ordenstracht schien sie nicht im Geringsten zu beeindrucken. Einige von ihnen hielten zwar kurz inne und sahen zu Boden, aber offensichtlich nicht aus Scham, sondern um zu warten, bis er vorbeigegangen war.
Setrakian nickte ihnen zu und folgte dann seinem damaligen Fluchtweg in den Wald hinein. Nach einigen falschen Abzweigungen fand er schließlich die Ruinen wieder, die
Überreste einer alten römischen Siedlung, in denen er diesem Nazi-Offizier begegnet war: Dieter Zimmer. Trotz seiner
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