Das Blut - Del Toro, G: Blut - The Fall
zerstörten unkontrolliert ganze Gebäude; Menschen rannten in Panik durch die Stadt. Wurden sie verfolgt? Gejagt? Waren es überhaupt Menschen?
Sie sah zu Zack und bemerkte erleichtert, dass er in das Display des iPod vertieft war. Sein konzentrierter Gesichtsausdruck erinnerte Nora an seinen Vater. Sie liebte Eph und war fest davon überzeugt, auch Zack lieben zu können, obwohl sie ihn immer noch kaum kannte. Aber sobald sie das Feriencamp erreicht hatten, würde sie genug Zeit haben, ihn näher kennenzulernen.
Sie blickte wieder in die Nacht hinaus, die jetzt nur noch von vereinzelten Scheinwerfern und Lichtinseln um Notstromaggregate herum durchbrochen wurde. Licht ist Hoffnung , dachte sie. Dann wurde das Land weiter, und die Stadt zog sich zurück. Nora versuchte, sich grob zu orientieren, abzuschätzen, wie lange sie noch zum Tunnel brauchten, um New York endgültig hinter sich zu lassen …
Und in diesem Moment sah sie eine Gestalt auf einer
niedrigen Mauer stehen. Die Silhouette zeichnete sich deutlich vor einem in den Himmel gerichteten Scheinwerfer ab. Irgendetwas an dieser Erscheinung ließ Nora erschaudern, sie konnte den Blick nicht davon abwenden. Der Zug kam näher … und die Gestalt hob die Hand.
Deutete auf den Zug.
Nein, nicht nur auf den Zug, sondern … auf Nora.
Kelly Goodweather sah Nora Martinez direkt in die Augen. Ihr Haar war vom Regen durchnässt und schmutzig, ihr Mund auf grässliche Weise verzerrt, ihre roten Augen funkelten.
Und sie lächelte.
Panisch drückte Nora die Stirn gegen die Scheibe, als könnte sie damit etwas ausrichten.
Und dann, im allerletzten Moment - als der Zug schon fast vorbei und der Vampir aus Noras Blickfeld verschwunden war - sprang Kelly los. Schoss durch die Luft. Schlug ihre Klauen in das Metall des Waggons.
Die Flatlands
Abraham Setrakian musste sich beeilen; er hörte bereits, wie Vasiliys Lieferwagen durch die Einfahrt auf der Rückseite der Werkstatt fuhr. Schnell durchblätterte er das alte Buch auf dem Tisch: den dritten Band der Collections des anciens alchimistes grecs, herausgegeben von Berthelot und Ruelle, Paris 1888. Seine Blicke huschten zwischen den Kupferstichen auf den vergilbten Seiten und den Notizblättern mit den Symbolen, die er aus dem Occido Lumen kopiert hatte, hin und her.
Besonders ein Symbol hatte seine Aufmerksamkeit erregt, und endlich fand er den dazugehörigen Kupferstich: das Bild eines sechsflügligen Engels, der eine Dornenkrone trug. Sein
Gesicht hatte weder Augen noch Mund, dafür befand sich eine Vielzahl von Mäulern auf seinen Flügeln. Zu seinen Füßen das nur allzu vertraute Symbol - eine Mondsichel -, und daneben ein Wort: Argentum.
Ehrfürchtig berührte Setrakian die vergilbte Seite - dann riss er sie heraus und legte sie schnell in sein Notizbuch, bevor Vasiliy durch die Tür kam.
Der Kammerjäger war vor Einbruch der Dunkelheit zurückgekehrt; er war sich sicher, dass ihm die Vampirbrut nicht gefolgt war. Er fand den alten Professor über den Tisch mit dem Radiogerät gebeugt, wie er gerade eines seiner Bücher schloss. Im Hintergrund war eine leise Stimme zu hören - eine Talkshow auf einem der wenigen Sender, die noch in Betrieb waren.
In diesem Augenblick empfand Vasiliy eine große Zuneigung zu Setrakian. Es war wohl eine Art Blutsbrüderschaft, so wie zwischen Soldaten, die Seite an Seite im Schützengraben kämpfen - nur dass sich in diesem Fall der Schützengraben eben mitten in New York City befand. Außerdem hatte Vasiliy einen Heidenrespekt vor dem gebrechlichen alten Mann, der einfach nicht aufgeben wollte. Und es gefiel ihm, dass es so viele Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gab: die Hingabe an ihre Pflicht und das große Wissen, das sie über ihre Feinde besaßen. Der einzige Unterschied lag in der Größenordnung: Vasiliy bekämpfte Schädlinge und Ungeziefer aller Art, während sich Setrakian der Aufgabe verschrieben hatte, die Menschheit von einer ganz besonders grausamen parasitären Spezies zu befreien.
Vasiliy hielt sich und Eph für die Söhne, die Setrakian nie gehabt hatte, Brüder und Kampfgefährten, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Der eine heilte, der andere vernichtete; der eine war ein Familienmensch und begnadeter Wissenschaftler, der andere ein Arbeiter, Autodidakt und
Einzelgänger; der eine lebte in Manhattan, der andere in Brooklyn. Und trotzdem hatte der eine - derjenige, der den Ausbruch der Seuche von Anfang an miterlebt und mit
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