Das Blut - Del Toro, G: Blut - The Fall
wissenschaftlichen Methoden zu erfassen versucht hatte - zusehen müssen, wie sein Einfluss mit jedem Tag, seitdem sie die Ursache des Virus entdeckt hatten, geschwunden und sein Gegenpart - der städtische Schädlingsbeauftragte mit Privatgeschäft in den Flatlands und einem natürlichen Killerinstinkt - die wichtigste Stütze des alten Mannes geworden war.
Doch es gab noch einen weiteren Grund, weshalb sich Vasiliy so sehr mit Setrakian verbunden fühlte, einen Grund, den er niemals ausgesprochen hätte, dessen er sich aber deutlich bewusst war. Vasiliys Eltern waren aus der Ukraine - nicht aus Russland, wie sie den Leuten ständig erzählten und wie er selbst es oft behauptete - nach Amerika ausgewandert. Wie alle Immigranten hatten sie von grenzenlosen Möglichkeiten geträumt. Und sie wollten ihrer Vergangenheit entkommen. Eine furchtbare Vergangenheit … Vasiliys Großvater - und dies war ihm nie freimütig erzählt worden, da niemand in seiner Familie darüber sprach, schon gar nicht sein ständig mürrischer Vater - war ein ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener, der von den Deutschen befreit worden war und dann in einem Arbeitslager als Aufseher tätig gewesen war. Nach Kriegsende wurde er inhaftiert, obwohl er zu seiner Verteidigung vorbrachte, er sei von den Nazis schikaniert und praktisch gezwungen worden, als Wächter zu arbeiten. Die Anklage brachte jedoch Beweise dafür vor, dass er sich an den Gefangenen bereichert hatte, und schließlich wurde ihm eine körnige Schwarz-Weiß-Fotografie zum Verhängnis, auf der er in schwarzer Uniform mit einem Karabiner in der Hand vor einem Stacheldrahtzaun stand. Sein Gesichtsausdruck wurde von der Anklage als höhnisches Grinsen, von der Verteidigung als schmerzverzerrte Grimasse interpretiert … Zeit seines Lebens hatte Vasiliys Vater kein Wort über die Angelegenheit verloren; das
wenige, das Vasiliy darüber wusste, hatte ihm seine Mutter erzählt.
Seither trug er die Schande wie eine schwere Last auf seinen Schultern. Selbstverständlich würde ihn niemand für die Sünden seines Großvaters zur Verantwortung ziehen, und doch war ihm, als hätte er die Verfehlungen seiner Ahnen genauso geerbt wie ihre Gesichtszüge.
In seinen Träumen wurden sie lebendig. Besonders von einer bestimmten Szene wurde er im Schlaf wieder und wieder gepeinigt: Als er in das Heimatdorf seiner Familie zurückkehrt, wo er noch nie im Leben gewesen ist, wird jede Tür, jedes Fenster vor ihm verschlossen. Mutterseelenallein geht er durch die Straßen, fühlt sich jedoch von allen Seiten beobachtet. Plötzlich schießt aus einer Gasse ein orangeroter Feuerball auf ihn zu, begleitet von dem Getrappel galoppierender Hufe. Es ist ein Hengst - sein Fell, seine Mähne und sein Schwanz stehen in Flammen -, und er stürmt auf ihn zu. Vasiliy kann im letzten Moment - immer im allerletzten Moment - zur Seite springen, sich umdrehen und beobachten, wie das Tier in die Wildnis flüchtet, verfolgt von einer dunklen Rauchwolke …
»Wie ist die Lage da draußen?«, fragte Setrakian.
Vasiliy rieb sich die Augen und stellte den Seesack ab. »Ruhig. Gespenstisch ruhig.« Er schlüpfte aus seiner Jacke und zog ein Glas Erdnussbutter und eine Schachtel Cracker hervor, die er auf dem Rückweg aus seiner Wohnung geholt hatte. Er bot dem alten Mann davon an. »Gibt es etwas Neues?«
»Nein, nichts.« Setrakian inspizierte die Crackerschachtel, als könnte er es sich leisten, bei ihren knappen Vorräten wählerisch zu sein. »Ephraim hätte sich schon lange melden müssen.«
»Die Brücken sind hoffnungslos verstopft.«
»Hm.« Setrakian wickelte die Schachtel aus und schnupperte daran, bevor er sich einen Cracker in den Mund steckte. »Haben Sie die Karten?«
»Hab ich.« Vasiliy war zu einer Außenstelle der städtischen Baubehörde in Gravesend gefahren, um Karten der Kanalisation von Manhattan zu besorgen, insbesondere der Upper East Side. »War kein Problem. Die Frage ist nur - werden wir sie auch einsetzen?«
»Das werden wir, keine Sorge.«
Vasiliy lächelte. »Haben Sie in diesem Buch irgendwas Interessantes gefunden?«
Setrakian legte die Crackerschachtel weg, zündete seine Pfeife an und sog nachdenklich den Rauch ein. »Ich habe … alles gefunden. Hoffnung. Und das Ende. Unser Ende.« Er zeigte Vasiliy drei Abbildungen der Mondsichel, ähnlich denjenigen, die sie sowohl in den U-Bahn-Schächten als auch auf den Seiten des Occido Lumen entdeckt hatten. »Sehen Sie? Dieses Symbol -
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