Das Blut der Unschuldigen: Thriller
Pater Ignacio vor vielen Jahren für die Arbeit in jener Abteilung empfohlen hatte, in der Informationen aus
aller Welt zusammenliefen. Dieser von der Sensationspresse als »Geheimdienst des Vatikans« bezeichneten Abteilung, von der Pater Sagardía bisweilen im Scherz sagte, sie sei in Wahrheit »Gottes Geheimdienst«, fiel die Aufgabe zu, alles anfallende Material zu sichten und zu analysieren, damit das Staatssekretariat einen Überblick über das bekam, was Tag für Tag außerhalb der Mauern des Vatikans geschah, und der Papst Entscheidungen treffen konnte.
In Wahrheit war an dieser Arbeit nichts geheimnisvoll. Gern wäre Sagardía von ihrer Nützlichkeit ebenso überzeugt gewesen wie Pater Ignacio, der seine Ansicht darauf gründete, dass die Abteilung mehrfach bei unlösbar scheinenden Konflikten hatte vermitteln können, ohne dass das an die Öffentlichkeit gedrungen wäre. Er sagte gern, bei dieser Aufgabe gehe es um den »Versuch, zu verhindern, dass unschuldiges Blut vergossen wird«.
Immer wieder hatte Bischof Pelizzoli Grund gehabt sich zu wundern, wie wichtig für Pater Ignacio die Chronik eines gewissen Dominikaners namens Julián gewesen war, aus der er ihm gelegentlich Stellen vorgelesen hatte. Ihn selbst hatte das nie auch nur annähernd so beeindruckt wie Aguirre, der oft erklärt hatte: »Diese Chronik hat mein Leben verändert.« So sehr er diesen Mann schätzte, so wenig konnte er das verstehen.
Nachdem der Bischof den Priester Domenico Gabrielli verabschiedet hatte, gleichfalls ein Dominikaner, las er noch einmal konzentriert die unzusammenhängenden Ausdrücke auf den Papierfetzen, die man in Frankfurt aus dem Feuer gerettet hatte. Beim italienischen Geheimdienst wie auch bei der Interpol und dem vor einigen Jahren in Brüssel ins Leben gerufenen Koordinationszentrum der Europäischen Union zur Terrorismusabwehr, das sich nahezu ausschließlich mit den
islamistischen Kommandos beschäftigte, war man überzeugt, dass der Vatikan imstande sei, mit Hilfe dieser vor dem Feuer bewahrten Wörter und Ausdrücke Licht in die Angelegenheit zu bringen. Doch wo war der rote Faden? Schon seit zwei vollen Tagen versuchten sie erfolglos das Geheimnis zu ergründen. Ihm war klar, dass sie auf Sagardías nahezu grenzenlose Vorstellungskraft angewiesen waren. Immerhin hatten schon verschiedentlich ungewöhnliche Lösungen, mit denen er aufgewartet hatte, zum Ziel geführt. Während der Bischof darauf wartete, dass der baskische Jesuit aus den Privatgemächern Seiner Heiligkeit zurückkehrte, betete er im Stillen zu Gott, er möge bei dem Starrkopf einen Sinneswandel bewirken.
»Das ist eigentlich kein so großes Kunststück.«
Alle Blicke richteten sich auf die junge Frau, die das so leichthin gesagt hatte. Sie hieß Mireille Béziers, hatte drei Jahre lang in mehreren Abteilungen des Brüsseler NATO-Hauptquartiers gearbeitet und war dem Zentrum erst vor wenigen Tagen zugewiesen worden, weil sich ihr Onkel, ein französischer General, dafür stark gemacht hatte, ihr diesen Herzenswunsch zu erfüllen. Hinter vorgehaltener Hand nannte man sie daher »die Eingeschleuste«.
»Finden Sie?«, fragte Lorenzo Panetta, der stellvertretende Leiter des Brüsseler Zentrums zur Terrorismusabwehr halb ärgerlich und halb neugierig.
»Nun, ich will nicht behaupten, dass es geradezu ein Kinderspiel ist, aber unmöglich scheint es mir auch nicht zu sein. Jedenfalls haben wir einen Hinweis. Augenblick, mal sehen, ob ich Recht habe…«
Matthew Lucas unterdrückte ein Lächeln. Da zerbrach sich seit einer vollen Woche ein Dutzend der besten Analytiker
Europas und Nordamerikas den Kopf über das Rätsel um die Wörter und Satzfetzen, die man nach dem Selbstmord der islamistischen Terroristen aus den Resten der verbrannten Papiere gefischt hatte, und jetzt kam dieses grüne Gemüse her und behauptete keck, die Lösung sei nicht besonders schwierig. Dabei hatten nicht einmal die Spezialisten des Vatikans etwas damit anfangen können. Für wen sich die junge Frau halten mochte, dass sie glaubte, all diesen hochkarätigen Spezialisten eine Lektion erteilen zu können?
Andererseits hatte sie unbestreitbar etwas zu bieten. Sie hatte ein Geschichtsstudium abgeschlossen und sprach nicht nur fließend Arabisch, sondern konnte auch, wie ihr Onkel versicherte, »arabisch denken«. Da ihr Vater Diplomat war, hatte sie einen großen Teil ihre Jugend in Syrien, Israel und in Tunesien sowie im Libanon und Jemen verbracht und später
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