Das Blut der Unschuldigen: Thriller
zu sein, den älteren Frauen beim Ein- und Aussteigen geholfen und ihnen angeboten, für sie Mineralwasser zu kaufen, als Halt gemacht wurde. Eine Frau, die ihre Neugier nicht zügeln konnte, hatte sie misstrauisch gefragt, was sie in Santo Toribio wollten. »Etwa auch den Ablass holen?«
»Das nicht. Aber wir machen eine Reise durch Kantabrien und wollen dabei das Heiligtum nicht auslassen. Sie müssen wissen, dass Jesus bei den Moslems einer der großen Propheten ist. Ans Kreuz genagelt haben ihn die Juden …«, erklärte
Ali. Die Frau schien mit dieser Antwort zufrieden zu sein, denn sie hatte ihnen daraufhin zugelächelt.
»Kantabrien gefällt uns so sehr, dass wir überlegen, mit unseren Verwandten noch einmal herzukommen«, erklärte Mohammed.
Als sie ausstiegen, zeigte die Reiseleiterin der Gruppe die Pforte der Vergebung.
Es erstaunte die beiden zu sehen, dass allem Anschein nach keinerlei Wächter, Polizeibeamte oder sonstige Sicherheitskräfte das Kloster schützten. Sie umschritten den Gebäudekomplex und stiegen an einem Felshang empor, um die Anlage von oben zu begutachten. Niemand schien auf sie zu achten. Mehrere Male suchten sie die Kirche auf und sahen sich aufmerksam in der Kapelle mit dem lignum crucis um, wo sich lautlos betende Pilger drängten.
Niemand behinderte den Zutritt zur Kapelle oder zu der Stelle, an der sich der Reliquienschrein befand, die man über einige Stufen erreichte … Es würde nicht die geringsten Schwierigkeiten machen, das Ganze in die Luft zu sprengen, wenn man wie Ali und Mohammed bereit war, sich dabei zu opfern. Sie wussten, dass Allah sie erwartete, und sein Paradies war weit verlockender als der Christenhimmel.
Stumm zählten sie die Schritte von der Heiligen Pforte zur Kapelle, untersuchten die anderen Zugänge und sahen sich im Klosterladen verschiedene Bücher mit Abbildungen der Örtlichkeiten an. Ganz offensichtlich war der Auftrag nicht nur durchführbar, er würde auch nicht die geringsten Schwierigkeiten machen. In jenem fernen Winkel Kantabriens zu Füßen des als Picos de Europa bekannten Gebirges schien keinerlei Misstrauen zu herrschen. Offensichtlich rechneten weder die Mönche noch die örtlichen Behörden damit, dass jemand dort einen
Anschlag verüben könne oder gar das lignum crucis zerstören wollte.
Al-Bashir musste ein Genie sein, weil er auf dieses Kloster verfallen war. Wie konnten die Ungläubigen so dumm sein, es unbewacht zu lassen, wenn sich darin angeblich das größte Stück des ihnen heiligen Kreuzes befand. Es aus der Welt zu schaffen, würde ein Kinderspiel sein, so leicht, dass dazu jeder imstande wäre. Nicht einmal Mut war erforderlich: Man musste nur eine ordentliche Sprengladung zünden, und das Kloster würde in die Luft fliegen.
Mohammed kam zu dem Ergebnis, dass die Christen selbst die Schuld an der Vernichtung ihres Kreuzes tragen würden, weil sie es nicht so schützten, wie es sich gehörte.
Am Ende der Messe folgten sie dem Beispiel der anderen und fotografierten das Kloster, die Kapelle, in der die Kreuzesreliquie aufbewahrt wurde, das Grab des heiligen Toribius, die Umgebung … Sie machten Dutzende von Aufnahmen, die es ihnen gestatten würden, ihr Ziel genauer ins Auge zu fassen. Sie brannten darauf zurückzukehren, um Omar zu berichten. Vor allem aber wollten sie al-Bashir kennenlernen, der in wenigen Tagen nach Granada kommen würde und versprochen hatte, mit ihnen zusammenzutreffen. Sie würden ihn beruhigen: Das lignum crucis würde es nicht mehr lange geben.
24
Das Klingeln des einen Mobiltelefons, in dem stets dieselbe SIM-Karte steckte und dessen Nummer nur ganz wenige Menschen kannten, riss Raymond aus dem Schlaf. Anfangs verstand er nicht, was ihm sein New Yorker Anwalt mitteilte, dann schwieg er, weil er nicht wusste, was er sagen sollte, als dieser wiederholte: »Ihre Gattin ist gestern entschlafen. Ich bedaure, Sie damit im Schlaf gestört zu haben, aber ich habe selbst gerade erst davon erfahren, weil ich unterwegs war, so dass mich der Kollege, der Ihre Gattin vertritt, vorher nicht erreichen konnte.« Es stellte sich heraus, dass Nancy längere Zeit mit Krebs der Bauchspeicheldrüse in Cleveland im Krankenhaus gelegen hatte. Der Anwalt wollte wissen, was der Graf angesichts der Situation zu unternehmen gedachte.
Raymond sah auf die Uhr: zwei Uhr. Was sollte er dem Mann sagen? Nach Cleveland fliegen konnte er nicht – als was hätte er sich da einführen sollen? Seine Frau hatte sich
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