Das Blut der Unschuldigen: Thriller
jeden Umgang mit ihm verbeten, und seine Tochter, die er nie gesehen hatte, wollte nichts von ihm wissen. Sofern er hinflog, musste er damit rechnen, von ihr abgewiesen zu werden. Er wusste wirklich nicht, was er sagen sollte.
»Hören Sie mich, Graf?«
»Ja, ja … Ich habe keine Anweisungen für Sie … Vielleicht können Sie meiner Tochter anrufen und ihr sagen, dass ich für alles Erforderliche zur Verfügung stehe … Ja, das dürfte das Beste sein. Sprechen Sie bitte mit ihr. Melden Sie sich gern wieder, wenn es etwas Neues geben sollte.«
Er stand auf und zog den seidenen Morgenrock an, den er
über eine Stuhllehne gehängt hatte. Dann ging er in den Salon, öffnete den Barschrank und nahm eine Flasche heraus. Ungeachtet der Uhrzeit brauchte er einen Schluck Calvados, um sich der Situation zu stellen. Er war jetzt Witwer. Obwohl er seine Frau seit fast dreißig Jahren nicht gesehen hatte, hatte ihn die Mitteilung von Nancys Tod tief getroffen. Das mochte damit zusammenhängen, dass sie die Hauptrolle in seinen geheimsten Träumen gespielt hatte, und das zu einer Zeit, da er sich mitten im Leben gefühlt und zum ersten und letzten Mal wirklich geliebt hatte.
Flüchtig überlegte er, seine Tochter Catherine anzurufen. Wenn sie aber nur halb so viel Charakter hatte wie die Mutter, würde sie sich strikt weigern, mit ihm zu sprechen und sofort auflegen. Sie hatte ihrem Anwalt schon vor Jahren klargemacht, dass sie ihren Vater weder kennenlernen noch das Geringste mit ihm zu tun haben wollte. Sie hatte ihn sogar, als sie volljährig wurde, aufgefordert, seine monatlichen Unterhaltszahlungen einzustellen. Sie wollte von niemandem abhängig sein, schon gar nicht von ihm.
Es war dem Anwalt nicht gelungen, sie umzustimmen. Seither hatte sie sich jedem Ansinnen verweigert, mit ihr Verbindung aufzunehmen, und auch Nancy hatte nicht einmal mehr mit Raymonds Anwalt gesprochen. Mutter und Tochter hatten das schwache Band zerschnitten, das zwischen ihm und ihnen bestanden hatte.
Er leerte das Glas mit einem Zug und goss es gleich noch einmal voll. Was sollte er tun? Nach New York fliegen und dort warten, bis Catherine aus Cleveland zurück war? Vielleicht war sie ja angesichts der Umstände bereit, ihn in ihrer Nähe zu dulden.
Er legte sich nicht wieder hin, sondern wartete auf den erneuten Anruf seines Anwalts. Er kam eine Stunde später.
»Es ist mir gelungen, mit dem Kollegen zu sprechen, der Ihre Tochter vertritt. Sie hat, ich bedaure Ihnen das sagen zu müssen, keinen Zweifel daran gelassen, dass sie sich nicht mit Ihnen in Verbindung zu setzen gedenkt.«
»Leider kommt das für mich nicht überraschend. Wann ist die Beisetzung?«
»Morgen Vormittag findet die Einäscherung in Cleveland statt, wo sie ihre letzten drei Jahre verbracht hat. Offenbar war sie dort in ständiger Behandlung. Mein Kollege war mit Einzelheiten ziemlich sparsam, aber ich glaube verstanden zu haben, dass Ihre Tochter bald nach New York zurückkehren will, wo sie, wie Ihnen bekannt sein dürfte, gemeinsam mit ihrer Mutter eine Kunstgalerie betrieben hat.«
Und ob er das wusste! Jahr um Jahr hatte er über Mittelsleute dort Bilder gekauft, damit sichergestellt war, dass Nancy und ihre Tochter genug zum Leben verdienten. Einen großen Teil davon hatte er verschenkt, andere standen nach wie vor verpackt in einem der Kellerräume der Burg. Er hatte keine Ader für moderne Kunst.
Er seufzte tief auf. Er fühlte sich geschlagen. Zugleich aber lehnte sich etwas in ihm auf. Zum ersten Mal in seinem Leben war ihm die Vorstellung unerträglich, nicht selbst tätig werden zu können.
Es war halb vier. Im Verlauf des Tages sollte er mit dem Jugoslawen zusammentreffen, um die letzten Schritte für den Anschlag von Istanbul zu besprechen. Es würde ebenso ablaufen wie bei den Besprechungen mit Ylena: Es war vorgesehen, dass sich der Mann ein Zimmer im Crillon nahm, damit sie sich ungesehen und in Ruhe unterhalten konnten.
Schließlich traf Raymond eine Entscheidung, obwohl er genau wusste, dass sie falsch war: Er würde die Besprechung mit
dem Jugoslawen verschieben und nach New York fliegen. Unter Umständen ergab sich dort eine Gelegenheit, allem Widerstand zum Trotz mit seiner Tochter zu sprechen. Gegen diese kurzfristige Änderung seiner Pläne konnte der Koordinator nicht gut etwas einwenden. Schließlich wurde man nicht jeden Tag Witwer.
Er nahm ein Mobiltelefon und wählte die Nummer des Jugoslawen. »Ich muss unsere Besprechung für
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