Das Blut der Unschuldigen: Thriller
Die bloße Vorstellung war bedrückend. Nein, sie wollte nicht so enden wie Laura White, Andrea Villasante oder Diana Parker, die so gut wie keine Zeit für ein Privatleben hatten, weil sie sich mit Leib und Seele der Arbeit verschrieben hatten. Zumindest nahm sie das an, denn die drei sprachen nie über etwas anderes als ihre Arbeit. Selbst Diana, die sie für weit umgänglicher hielt als die beiden anderen, schien davon förmlich besessen zu sein.
Sie hoffte im Stillen, dass niemand sie aufforderte, ausgerechnet
an diesem Wochenende länger zu bleiben. Allerdings war die Wahrscheinlichkeit gering, denn eigentlich wurde sie von so gut wie niemandem beobachtet.
Auf dem Weg in Weins Büro sah Lorenzo Panetta, dass Laura White ihren Schreibtisch aufräumte, die Brille abnahm und in die Handtasche steckte.
»Machen Sie Feierabend?«
»Noch nicht, aber bald. Hoffentlich habe ich an diesem Wochenende Gelegenheit auszuspannen.«
»Tun Sie das, Sie sehen aus, als ob Sie es brauchen könnten.«
Als er bei Wein eintrat, legte dieser gerade den Hörer auf.
»Anruf aus Paris.«
»Und?«, fragte Panetta ungeduldig.
»Du hattest Recht. Die Überwachung des Festnetzanschlusses
in der Burg des Grafen war ein Volltreffer. Das ändert nichts daran, dass ich zuvor um die Genehmigung dafür ersuchen musste, weil wir sonst Scherereien bekommen hätten.«
»Das ist anzunehmen. Aber sag schon, was gibt es?«
»Du ahnst nicht, mit wem der Mann Umgang hat.«
»Natürlich nicht. Aber wenn er mit jemandem wie dem Jugoslawen verkehrt, kann das jeder Beliebige sein.«
»Der Bericht über das Gespräch und die Mitschrift dazu müssen jeden Augenblick kommen. Sagt dir der Name Salim al-Bashir etwas?«
»Ich glaube nicht … müsste er das?«
»Bis jetzt hatte ich auch noch nie von dem Mann gehört. Er soll ein geachteter Geschichtsprofessor in England sein, der mehrere Bücher über die Kreuzzüge geschrieben hat und hohes internationales Ansehen genießt. Führende Politiker lassen sich von ihm in Fragen der Verständigung zwischen Moslems und dem Westen beraten.«
»Und der hat mit dem Grafen zu tun?«
»Wie es aussieht, ja.«
Die beiden sahen einander an, als warteten sie darauf, wer als Erster seinen politisch inkorrekten Verdacht ausdrücken sollte. Panetta wagte sich vor, weil er Hans Wein und dessen Sorge, man könne ihn falsch verstehen, nur allzu gut kannte.
»Wir haben also einen französischen Grafen, der mit einem Waffenhändler und gleichzeitig mit einem Professor zu tun hat, der al-Bashir heißt. Das ist doch eine ziemlich brisante Mischung, oder? Vor allem, weil es sich bei den feinen Herren um Männer handelt, von denen jeder annimmt, dass die über allen Verdacht erhaben sind.«
»Hast du was Neues über den Grafen?«, erkundigte sich der Leiter des Zentrums.
»Ja, vor zwei Stunden habe ich seinen vollständigen Lebenslauf bekommen. Ein eigenartiger Mensch! Ein wahrhaft würdiger Erbe seines Vaters. Hier ist der Bericht. Die ganze Geschichte strotzt von Sonderbarkeiten. Der Mann ist Vorsitzender einer Stiftung, die sich ›Katharergedächtnis‹ nennt. Sein Vater war ein Sympathisant der Machthaber des Dritten Reichs. Wie es aussieht, hat er auf seiner Burg Nazigrößen empfangen. Auch haben Arbeitsgruppen junger Nazis mit Unterstützung von Wissenschaftlern den Gral gesucht. Sogar in der katholischen Kirche hat das Treiben dieser Leute seinerzeit Unruhe hervorgerufen. Hier steht alles«, sagte er und wies auf die Blätter in seiner Hand. »Das solltest du unbedingt lesen.«
»Die Leute in Paris leisten gute Arbeit.«
»Die Amerikaner auch. Von Matthew Lucas habe ich vorhin einen Bericht über jeden Schritt bekommen, den der Graf seit seinem Eintreffen in New York getan hat. Übrigens hat das Labor bestätigt, dass er auch der Gesprächspartner des
Jugoslawen bei der Unterhaltung über den rätselhaften Stuhl war.«
»Ich fürchte, ich werde dich bitten müssen, am Wochenende zusammen mit mir im Büro zu bleiben«, sagte Wein zögernd. »Wir haben viel Arbeit.«
»Den Eindruck habe ich auch.«
»Und wen fordern wir zu unserer Unterstützung an?«
»Niemanden.«
»Warum? Es gibt keine undichte Stelle! Das Ergebnis der Sicherheitsüberprüfung liegt vor. Alle, die hier arbeiten, sind sauber.«
»Ich weiß. Das freut mich auch, aber trotzdem … Zwei Sekretärinnen genügen. Ich denke, wir kommen zurecht, ohne dass außer uns noch jemand sein Wochenende opfern muss.«
»Da bin ich anderer
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