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Das Blut der Unschuldigen: Thriller

Das Blut der Unschuldigen: Thriller

Titel: Das Blut der Unschuldigen: Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Navarro , K. Schatzhauser
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herzukommen. Wenn ich wissen möchte, was in Marokko geschieht, schalte ich den Fernseher ein und warte nicht, bis uns ein Verwandter über die Ereignisse im Lande einen Brief schreibt. Um mich nach dem Ergehen meiner Angehörigen zu erkundigen, benutze ich das Telefon, genau wie du. Wir vertrauen ja auch die Nahrungsmittel nicht mehr der Kühle der Nacht an, sondern bewahren sie im Kühlschrank auf. Die Welt hat sich geändert, die Uhr ist nicht stehen geblieben, und wir müssen unsere Bräuche, unsere Vorschriften, der Welt anpassen, in der wir leben. Wir müssen die alten Texte mit anderen Augen lesen, ohne das
Wesentliche darin zu verfälschen. Das Wesentliche aber ist das Bewusstsein, dass Allah lebt und barmherzig ist.«
    Alle hatten schweigend zugehört. Ihre Mutter unterdrückte ein stolzes Lächeln, Fatima sah bewundernd und der Vater liebevoll zu ihr hin. Mohammed war verblüfft, und selbst Mustafa schien von ihren Worten beeindruckt zu sein, auch wenn er eine Weile zu brauchen schien, um sie zu verarbeiten.
    »Du versuchst uns mit sprachlichen Tricks reinzulegen. Wieso glaubst du das Gesetz ausdeuten zu dürfen? Bist du womöglich weiser als unsere Imame und Ulemas, die ihr ganzes Leben auf das Koranstudium verwendet haben? Du suchst doch nur nach Vorwänden, um dein Verhalten zu rechtfertigen, nichts weiter.«
    »Was weißt du von meinem Verhalten? Wovon sprichst du überhaupt?«
    »Ich habe mich gewundert, dich ohne Hidschab zu sehen … und dass du hier mit uns Männern am Tisch sitzt. Dann das, was du sagst … sieh ja zu, dass dich niemand hört, denn damit würdest du in unserer Gemeinschaft Ärgernis erregen.«
    »Ärgernis nehmen Menschen, die danach suchen, und das Böse wohnt in ihnen, aber nicht in meinen Worten. Ich sage nur, dass der Glaube weder mit Demokratie und Freiheit unvereinbar ist, noch mit der Achtung vor dem Glauben anderer. Es gibt einen Satz von Martin Luther King, der mich immer tief berührt hat. Er lautet: ›Wir haben gelernt, wie die Vögel zu fliegen und wie die Fische zu schwimmen, sind aber nicht imstande, wie Brüder miteinander zu leben.‹ Nun denn, ich bin überzeugt, dass das möglich ist. Dabei kommt es ausschließlich auf uns an. Wir dürfen nicht so überheblich sein, anderen unsere Vorstellungen aufzuzwingen und diejenigen zu verdammen und zu bekämpfen, die anders beten, fühlen oder denken.
Wir müssen zulassen, dass jeder zu seinem Gott beten kann, uns Vorschriften und Gesetze geben, an die sich jeder hält und die ein friedliches Zusammenleben in gegenseitiger Achtung ermöglichen. Außerdem sollten wir die heiligen Rechte anerkennen, die jeder von uns als Individuum besitzt.«
    »Jetzt aber Schluss!«, schrie Mohammed, der stärker beeindruckt war, als er sich eingestehen wollte. Die Worte seiner Schwester trafen ihn in tiefster Seele, und ihn erfasste ein unendlicher Hass auf sie, weil sie es fertigbrachte, in ihm Zweifel zu wecken.
    Wenige Augenblicke lang war er von ihren Argumenten angetan gewesen. Er hatte sich gesagt, weder würde es jemandem nützen, wenn er sich opferte, noch würde die Welt dadurch besser, dass man die Überreste des Kreuzes vernichtete, an dem der Prophet Isa den Tod gefunden hatte.
    Sie hatte sein Gewissen wachgerüttelt, doch für ihn gab es keinen Weg zurück.
    »Beruhige dich, mein Junge«, bat ihn der Vater. »Und du, Laila, schweig, damit der Sohn meines Bruders keinen schlechten Eindruck von uns bekommt. Mustafa spricht gemäß der Überlieferung, die wir alle achten müssen. Jetzt sollten wir uns zurückziehen. Bestimmt ist er müde von der Reise, und eure Mutter und Fatima müssen eine Gelegenheit haben, selbst etwas zu essen und ein wenig zu ruhen.«
    Mustafa dankte für die Gastfreundschaft und folgte Mohammed zu dem kleinen Raum, in dem bis dahin Fatimas Kinder untergebracht waren. Solange Mustafa dort war, würden sie bei der Mutter und Mohammed schlafen. Das war ihm mehr als recht, lieferte ihm das doch einen Vorwand, seine Frau nicht anzurühren. Trotz aller Bemühungen war sie nicht schwanger geworden, und er fühlte sich immer mehr vom weichen Fleisch
dieser Frau abgestoßen, die ihn mit gleichgültigem Blick ertrug, ohne den geringsten Laut von sich zu geben. Wenn er sie besaß, war sie ebenso unbeteiligt wie er.
    Nachdem der Vater das eheliche Schlafzimmer aufgesucht hatte, bedeutete die Mutter den beiden anderen Frauen, ihr in die Küche zu folgen.
    »Laila, gib Acht. Mir gefällt nicht, was dein Vetter gesagt

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