Das Blut der Unschuldigen: Thriller
meinem Arbeitszimmer. Da ich zwischen neun und zwölf Vorlesungen und Seminare habe, könnten wir uns für die Mittagszeit verabreden, oder, wenn Ihnen das lieber ist, am Nachmittag, ab drei Uhr.«
»Drei Uhr passt mir gut.«
»Ich freue mich darauf, Sie wiederzusehen.«
Fernand Arnaud machte Anstalten zu gehen. Noch konnte er den letzten Zug nach Paris erreichen. Der Graf schien seinen Gedanken erraten zu haben, denn er sagte: »Mein Fahrer wird Sie zur Bahn bringen. Wir können also noch ein Gläschen miteinander trinken, bevor Sie gehen.«
Er sah keine Möglichkeit, die Einladung abzulehnen. Wie gerufen kam der Diener mit einem Tablett herein, auf dem zwei Teller mit Appetithäppchen und eine Flasche Chablis in einem Weinkühler standen.
Nur widerstrebend nahm Arnaud das ihm angebotene Glas an, war aber gleich darauf froh, es getan zu haben. Der Chablis war ausgezeichnet, zweifellos der beste, den er je im Leben getrunken hatte.
»Glauben Sie, dass es heute noch Katharer gibt?«, fragte der Anwalt unvermittelt. Der Graf warf ihm einen missbilligenden Blick zu.
»Nein. Wie sollte das möglich sein? Sofern jemand als Katharer auftritt, ist das ein Scharlatan, der sich die Leichtgläubigkeit anderer Menschen zunutze macht. Die gegenwärtig in bestimmten Gesellschaftskreisen in Paris herrschende Mode der Theosophie ärgert mich maßlos. Nichts, aber auch gar nichts an den Katharern war esoterisch. Ich könnte mir denken, dass sie sich empört im Grabe herumdrehen würden, wenn sie wüssten, was diese neuzeitlichen Okkultisten und Esoteriker unter dem Begriff ›Katharer‹ zusammenfassen.«
Der Graf und sein Anwalt tauschten einen verschwörerischen Blick. Arnaud machte aus seinem Herzen keine Mördergrube; es schien ihm geradezu Vergnügen zu bereiten, die beiden zu provozieren, als wäre ihm bewusst, dass sie einer der Gruppen angehörten, über die er sich so abschätzig äußerte.
»Was halten Sie von Déodat Roché?«, erkundigte sich der Anwalt.
Arnaud lachte laut heraus, obwohl ihm bewusst sein musste, dass er damit seinen Gastgeber und dessen Anwalt kränkte.
»Ein ausgemachter Dummkopf! Und seine Anhänger sind es noch mehr.«
»Vermutlich vertreten Sie mit Bezug auf den Autor Maurice Magret mehr oder weniger dieselbe Ansicht?«, hakte der Anwalt nach.
»Eine gewisse erzählerische Begabung kann man ihm nicht absprechen, aber seine Theorien sind allesamt Ammenmärchen. Ich betone noch einmal, meine Herren, an der Bewegung der Katharer, der Guten Christen, wie sie sich selbst nannten, hat es nichts Esoterisches gegeben. Lassen Sie sich nicht hinters
Licht führen und vergeuden Sie Ihre Zeit nicht mit Hirngespinsten.«
»Wie kommen Sie auf die Vermutung, wir könnten uns täuschen lassen?«, erkundigte sich Graf d’Amis.
»Weil Sie sich nach Roché und Magret erkundigt haben. Déodat Roché ist ein Notar ohne die mindesten Kenntnisse über das Mittelalter, der von der Vorstellung besessen ist, ein ›Katharerland‹ ins Leben zu rufen. Man kann aber den Lauf der Geschichte nicht umkehren – was in der Vergangenheit liegt, ist vergangen. Was Maurice Magret angeht, habe ich bereits gesagt, dass er als Erzähler nicht unbegabt ist, doch alles, was er über die Katharer schreibt, hat er sich aus den Fingern gesogen. Man merkt, dass er kein Fachmann auf dem Gebiet ist und seiner Fantasie freien Lauf lässt. Offenkundig ist er mit seinen Schriften außerordentlich erfolgreich und hat durch sie viele Anhänger gewonnen.
Wir leben in schweren Zeiten. Die Krise, die Europa gegenwärtig durchlebt, lässt viele Menschen glauben, früher habe es eine Zeit gegeben, in der alles besser war. Astrologen, Spiritisten und andere Scharlatane nutzen die Ängste der Menschen vor der ungewissen Zukunft aus. Statt sich der Wirklichkeit zu stellen, sind manche bereit, die unfassbarsten Dinge zu glauben, weil sie darin einen gewissen Trost finden.«
»Ihrer Meinung nach hängt also das Interesse vieler Menschen an den Katharern mit der politischen Lage Europas zusammen?« , erkundigte sich der Anwalt.
»Ja. Zeiten der Unsicherheit bereiten gewöhnlich einem gewissen Obskurantentum den Boden.«
»Wie Sie wissen, heiße ich d’Amis und kann daher mit Fug und Recht sagen, dass mein Interesse familiäre Gründe hat.«
»Das liegt auf der Hand: Aus der Chronik geht hervor, dass
sie in die Hände der Tochter Doña Marías gelangt ist, die mit dem Ritter Bertrand d’Amis verheiratet war, dessen hochwohlgeborener
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