Das Blut der Unschuldigen: Thriller
losbinden, damit er beweisen kann, ob er unschuldig ist.«
Er trat entschlossen auf den Hirten zu und hielt ihm das Kruzifix hin, wobei er ihm flehend in die Augen sah. »Küsst es, guter Mann, und vertreibt so die Zweifel, die der Inquisitor hegt.«
Mit kaum wahrnehmbarem Zögern ergriff der Hirte das Kruzifix, sah erst zu Bruder Julián und dann zum Inquisitor hin und küsste es mehrere Male. Dann bekreuzigte er sich und kniete, das Kruzifix in den Händen, weinend nieder, wobei er ein Gebet murmelte.
»Welchen weiteren Beweis braucht Ihr noch? Ihr seht es selbst. Dieser Mann ist ein guter Christ«, sagte Julián, wobei er die letzten Wörter in besonderer Weise betonte.
Des Inquisitors Gesicht war rot vor Zorn. Am liebsten hätte er den Mönch, den er bisher für einen rechten Schwachkopf gehalten hatte, wegen seiner Einmischung eigenhändig durchgeprügelt. Woher hatte der Mann die Unerschrockenheit genommen, sich für den Ziegenhirten einzusetzen?
»Lasst ihn gehen, er ist unschuldig«, bat Bruder Julián. »Niemand wird noch an die Gerechtigkeit der Kirche glauben, wenn wir nicht fähig sind, die Spreu vom Weizen zu trennen.«
Inzwischen hatte sich eine Gruppe von Kriegern erwartungsvoll um sie herum versammelt. Viele von ihnen waren über den Inquisitor, dem jedes Mitempfinden fremd war, verbittert, hatte er doch so manchen ihrer Verwandten und Freunde in den Tod geschickt.
Wortlos und mit unverhüllter Wut auf den Zügen drehte sich der Inquisitor auf dem Absatz um. Besorgt fragte sich Bruder Julián, was er vorhaben mochte.
»Mir aus den Augen«, gebot er dem Ziegenhirten. »Sofort, auf der Stelle!«
Unter Tränen erhob sich der Mann und verließ das Lager, wobei er sich ängstlich umsah. Offenbar fürchtete er, der Inquisitor könne es sich noch einmal anders überlegen.
Bruder Julián fühlte sich erschöpft, war aber zum ersten Mal seit langem mit sich selbst im Reinen. Er erinnerte sich an den heilkundigen Templer Armand de la Tour, der ihm gesagt hatte, das einzige Mittel zur Heilung seines Leidens bestehe darin, dass er stets im Einklang mit seinem Gewissen handele.
»Eines Tages«, sagte er leise vor sich hin, »eines Tages wird jemand das Blut der Unschuldigen rächen.«
ZWEITER TEIL
1
5. Mai 1938
Carcassonne, Frankreich
»Eines Tages wird jemand das Blut der Unschuldigen rächen.«
Dieser Schlusssatz bewegte den Historiker zutiefst. Der Bericht auf den Pergamentrollen, die über siebenhundert Jahre lang in einer abgelegenen Burg Südfrankreichs aufbewahrt worden waren, hatte ihn tief beeindruckt.
Er wusste, dass sein Auftraggeber auf das Ergebnis seiner Untersuchung wartete. Der Mann war ihm nicht sympathisch, und sein Anwalt, der ziemlich großen Einfluss auf ihn auszuüben schien, noch weniger. Doch das war unerheblich. Er befand sich in seiner Eigenschaft als Mittelalter-Spezialist der Universität Paris dort auf der Burg und nicht, um gesellschaftliche Kontakte zu pflegen.
Er rieb sich die Augen und sah auf die Uhr. Der Kaffee vor ihm war kalt geworden, und die belegten Brote auf ihrem Silbertablett hatte er kaum angerührt. Jetzt merkte er, dass die Lektüre des Berichts den ganzen Nachmittag gedauert hatte. Vor den Fenstern, die auf den gepflegten Park hinausgingen, begann es zu dämmern.
Obwohl er sich mit Bezug auf die Echtheit der Rollen sicher war, hatte er überlegt, den Grafen zu bitten, sie ihm für einige Zeit mit nach Paris zu geben. Dort hätte er sie gern einigen Fachkollegen an seiner Universität vorgelegt, die sich auf die Datierung von Manuskripten spezialisiert hatten.
Er verließ den Raum auf der Suche nach dem Grafen, hatte aber noch keine drei Schritte getan, als ein Diener auf ihn zutrat.
»Wünschen Sie etwas, Professor?«
»Ja. Ich würde dem Herrn Grafen gern etwas mitteilen.«
»Sehr wohl. Er befindet sich in seinem Arbeitszimmer.«
Gleich darauf tauchte Étienne Marie de la Pallissière auf, zweiundzwanzigster Graf d’Amis, der es nicht abwarten konnte, die Meinung des Mediävisten zu hören. Ihn begleitete sein Anwalt, Maître de Saint-Martin.
»Nun, was sagen Sie?«, fragte der Graf ohne Einleitung.
»Ein ganz und gar außergewöhnlicher Bericht von einem Mann in tiefer Seelenqual, der mit einem bemerkenswerten Einfühlungsvermögen begabt war. Meiner Ansicht nach stammen die Pergamente aus der angegebenen Zeit, doch würde ich sie gern mit nach Paris nehmen, um die Meinung einiger Kollegen dazu einzuholen …«
»Man hat uns gesagt, dass
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