Das Blut der Unschuldigen: Thriller
Recht, ich bin übermüdet. Gestern bin ich erst spät nach Hause gekommen, und wenn man die fünfzig hinter sich hat, macht sich allmählich auch das Alter bemerkbar. Meine Frau und mein Sohn behaupten, ich sei ein alter Brummbär geworden. Das Schlimmste aber ist, dass ich zu nichts zu gebrauchen bin, wenn ich nicht meine acht Stunden Schlaf bekomme.«
Martine lächelte verständnisvoll.
»Du errätst nie, wo ich gewesen bin«, fuhr er fort.
»Wie ich dich kenne, bin ich sicher, dass ich bestimmt nicht darauf käme.«
»Vor einer Woche hat mich ein Kollege aus Toulouse telefonisch gebeten, mir auf einer Burg in der Nähe von Carcassonne alte Dokumente eines seiner Bekannten anzusehen. Aus Kollegialität ist mir nichts übrig geblieben, als zuzusagen. Allerdings muss ich sagen, ich bin froh, dass ich hingefahren bin.«
»Hast du etwa einen Schatz entdeckt?«
»Das kann man so sagen. Es ist ein wunderbares Dokument: eine von einem Schreiber der Inquisition verfasste Chronik. Dieser Dominikaner scheint den Katharern als eine Art Geheimagent gedient zu haben.«
Martine runzelte die Brauen. Ganz wie Arnaud hielt sie im Zusammenhang mit den Katharern alles für verdächtig, was nach Esoterik und Fantastik aussah.
Da ihm das bekannt war, fuhr er fort: »Ich versichere dir, die Sache ist wirklich großartig. Die Heldin, die im Mittelpunkt des Berichts steht, ist eine Vollendete der Katharer, die diesen Schreiber, einen unehelichen Sohn ihres adligen Gemahls, auffordert, die Verfolgung der Guten Christen für die Nachwelt aufzuzeichnen.«
»Was für sonderbare Geschichten erzählst du da?«, begehrte sie auf.
»Ja, die Sache klingt fantastisch, ist es aber in keiner Weise. Lies die Chronik am besten selbst und bilde dir ein Urteil. Dann kannst du mir ja sagen, was du davon hältst.«
»Wo befindet sie sich?«
»Der Graf bringt sie mir am Montag.«
»So, so, du verkehrst jetzt in Adelskreisen«, lachte sie.
»Nun ja, der Eigentümer dieses Schatzes ist ein Graf und obendrein ein sehr sonderbarer Mensch, ganz wie sein Anwalt. Ich würde die beiden als … stell dir vor, sie haben mich nach Roché und Magret gefragt.«
»Gott, wie entsetzlich! Diese beiden Schundliteraten. Bist du sicher, dass die Chronik echt ist?«
»Ja. Du wirst sie ja selbst sehen. Es wird nicht einfach sein, den Grafen dazu zu bringen, dass er einer Veröffentlichung zustimmt.«
»Warum?«
»Wenn du am Montag hier bist, stelle ich dich ihm vor – dann wirst du es begreifen.«
2
Fernand Arnaud verbrachte das Wochenende damit, in seiner Bibliothek nach etwas zu suchen, was ihm einen Hinweis auf das außergewöhnliche Dokument des Grafen liefern konnte.
Er fand nichts außer dem, was er bereits wusste: Die Protokolle der Verhöre, denen man die armen Teufel von Montségur unterzogen hatte, waren dem Eifer des Inquisitors Bruder Ferrer zu verdanken. Inzwischen aber wusste er etwas, was ihm vorher nicht bekannt gewesen war, nämlich dass sich die Seele eines der dominikanischen Schreiber nicht zwischen dem Gott der herrschenden Kirche und dem der Katharer hatte entscheiden können.
Es fiel ihm nicht schwer, sich diesen Bruder Julián vorzustellen. Er musste recht klug gewesen sein, wenn es ihm gelungen war, sich in diesem reißenden Strom beim äußerst gefährlichen Manövrieren zwischen den beiden Ufern am Leben zu
erhalten. Außerdem war er wohl von einer gewissen Ritterlichkeit gewesen, die nichts mit seiner Herkunft zu tun hatte. Während ihn Bruder Julián begeisterte, eine Persönlichkeit mit all ihren Widersprüchen und Schattierungen, war er von der tatkräftigen, streitbaren und unbeugsamen Doña María geradezu hingerissen. Gern hätte er diese beiden ungewöhnlichen Menschen kennengelernt.
Er hätte gern gewusst, wozu Graf d’Amis das Dokument verwenden wollte. Vermutlich hatte er mit irgendeiner der im Untergrund tätigen Gesellschaften zu tun, die nach der Wiedergeburt eines ›Katharerlandes‹ verlangten, obwohl es ein solches nie gegeben hatte.
Pünktlich um drei Uhr kündigte ihm am Montag ein Pedell den Besuch des Grafen an. Er hatte Martine Dupont in sein Arbeitszimmer gebeten, um sie seinem Besucher vorstellen zu können.
Zu seiner Überraschung kam dieser nicht allein, sondern in Begleitung seines Anwalts. Beide begrüßten Martine unfreundlich, woraufhin sie, unangenehm berührt, den Raum sogleich verließ.
»Meine Kollegin Dupont gehört zu den besten Mediävisten Frankreichs«, erklärte Arnaud
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