Das Blut der Unschuldigen: Thriller
Nachfahr Sie vermutlich sind.«
»So ist es«, bestätigte der Graf stolz.
»Darf ich mich noch einmal erkundigen, warum Ihre Familie diese Chronik nicht schon früher der Öffentlichkeit bekannt gemacht hat?«
»Noch ist sie nicht veröffentlicht, und ich bin nicht einmal sicher, ob ich das tun soll. Trotzdem will ich Ihre Frage beantworten: Sie ist als Teil meines Erbes erst mit dem Ableben meines Vaters vor drei Monaten in meinen Besitz gelangt.«
»Ich vermute aber, dass Ihnen ihre Existenz bekannt war…«
»Selbstverständlich. Jahrhunderte hindurch hat meine Familie sie unter größter Geheimhaltung aufbewahrt, denn ihr bloßer Besitz bedeutete Lebensgefahr. Schließlich hat mein Großvater entschieden, dass der Zeitpunkt gekommen sei, sie ans Licht zu bringen. Er hat sich dafür ausgesprochen, sie einer Universität zu übergeben, doch bei dieser Absicht ist es bis zu seinem Tode geblieben. Mein Vater war anderer Ansicht und hat sie aufbewahrt, weil er hoffte … nun, er hatte seine eigenen Pläne damit, wollte aber zuvor, dass die Echtheit der Dokumente festgestellt wurde.«
»Wozu? Welchen Grund hatte er, die Echtheit von Dokumenten anzuzweifeln, die sich schon so lange im Familienbesitz befanden?«, wollte Arnaud wissen.
»Mein Großvater hat sich nicht besonders für die Vergangenheit unserer Familie interessiert und, soweit mir bekannt ist, erst kurz vor seinem Tod zu meinem Vater über die Chronik gesprochen. Inzwischen ist mir die Verantwortung dafür zugefallen, damit zu tun, was richtig ist.«
»Und was ist richtig?«, fragte Professor Arnaud neugierig.
Graf d’Amis gab keine Antwort. Er sah auf die Uhr, und sogleich tauchte der Diener wieder auf, als könnte er die Wünsche seines Herrn durch die Wände erahnen.
»Es ist Zeit, Professor Arnaud an die Bahn zu bringen.«
»Der Wagen steht bereit, gnädiger Herr«, erklärte der Diener.
»Schön, Professor. Ich suche Sie dann kommenden Montag um drei Uhr in Ihrem Arbeitszimmer in der Universität auf«, sagte der Graf statt einer Verabschiedung.
Der Anwalt neigte den Kopf auf eine Weise, die Arnaud als Parodie einer Verbeugung erschien. Zwei sonderbare Heilige , dachte er, hütete sich aber, etwas zu sagen.
Die Nachrichten in der Presse hätten nicht beunruhigender sein können. Das Jahr 1938 war für Europas Wirtschaft ein Alptraum. Als hätte das nicht genügt, hetzte in Deutschland der verrückte Adolf Hitler in einer Weise die Massen auf, dass Arnaud Schauer über den Rücken liefen.
Wie ein Großteil seiner Landsleute war er überzeugt, dass der deutsche Reichskanzler den französischen Ministerpräsidenten Daladier mit seiner ständig wiederholten Versicherung, Deutschland habe weder expansionistische Absichten, noch denke es daran, Krieg zu führen, ganz bewusst irreführte. Hinzu kam die Selbsttäuschung der Franzosen, die hinter der Maginot-Linie in Sicherheit zu sein glaubten. Arnaud tröstete sich mit der Überzeugung, die Zeit werde dafür sorgen, die Dinge an ihren rechten Platz zu rücken, und die jungen Leute würden schon noch merken, dass man Zukunftsängste weder durch Unterdrückung noch dadurch bekämpfen kann, dass man Ausländern die Schuld an den Zuständen in die Schuhe schiebt.
»Du siehst überhaupt nicht gut aus. Wahrscheinlich schläfst du nicht genug und bist deshalb auch so unaufmerksam. Das ist heute schon das zweite Mal, dass du mich nicht gesehen hast, denn sonst hättest du mich ja wohl gegrüßt.«
Er lächelte der Frau zu, die ihn angesprochen hatte. In der Tat war er gerade ins Dozentenzimmer eingetreten, ohne zu merken, dass seine Kollegin Martine Dupont, deren Spezialgebiet ebenfalls die Geschichte des Mittelalters war, rauchend darin saß. Das einzige Problem dieser fähigen Hochschullehrerin war ihre Schönheit, die sie sich noch bis über das vierzigste Jahr hinaus bewahrt hatte. Nicht nur hatte sie härter arbeiten müssen als jede andere, um zu beweisen, dass sie nicht nur schön, sondern auch klug war, sie musste auch immer wieder den einen oder anderen Kollegen in seine Schranken weisen, der in ihr eine leichte Beute zu sehen schien. Dass sie als Junggesellin lebte, war geradezu das unverwechselbare Merkmal ihrer Identität: Nichts war ihr so wichtig wie ihre wissenschaftliche Laufbahn, der sie sich mit ganzer Kraft widmete.
An Arnaud schätzte sie, dass er zu ihrer großen Erleichterung nie den geringsten Annäherungsversuch unternommen hatte.
»Entschuldige bitte. Ja, du hast
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