Das Blut der Unsterblichen
Bestrafung gewesen, das spürte Leila. Nahum hatte lediglich ihre Kräfte testen wollen, um sicherzugehen, dass ein Kompromiss lohnenswert wäre.
„Niemand ist in der Lage, meinem Eindringen zu widerstehen, kein Unsterblicher und schon gar kein Sterblicher. Sie sind nicht mehr als Würmer, die sich unter meinen Füßen winden und die ich jederzeit zertreten kann“, sagte Nahum. „Doch du, Leila, hast nicht nur standgehalten, du hast sogar die Dreistigkeit besessen, mich anzugreifen. Ich bin beeindruckt.“ Er legte die Fingerspitzen aneinander und lächelte versonnen. „Du hast dich tapfer geschlagen. Aus diesem Grund biete ich dir einen Kompromiss an: Wenn du mich als deinen Lehrer akzeptierst, wird deine Mutter in unsere Gemeinschaft aufgenommen.“
Ein jähes Triumphgefühl durchflutete Leila. „Einverstanden“, sagte sie.
„Das ist unerhört“, rief Ernesto. „Wie kannst du das anbieten, Nahum? Ihre Eltern haben die Gesetze gebrochen. Außerdem ist ihre Mutter eine Sterbliche!“
„Du irrst dich“, antwortete Nahum. „Ihre Mutter ist keine Sterbliche mehr.“
„Das kann nicht sein!“, stieß Ernesto zornig hervor. „Sie wurde nie offiziell verwandelt, sie kann unmöglich eine von uns sein!“
„Nun, offiziell verwandelt oder nicht, ich versichere dir, dass sie mittlerweile eine Unsterbliche ist“, erwiderte Nahum ruhig.
Ernesto sprang auf und beugte sich wutentbrannt über den Tisch. „Das glaube ich nicht! Sie soll hier erscheinen, heute Nacht noch! Und ich will diesen Verräter Marcus del Casals sehen, der meint, er kann sich ungestraft über alle Regeln hinwegsetzen. Wo kämen wir hin, wenn jeder Unsterbliche tut, was er will? Wir haben Jahrhunderte gebraucht, um uns zu organisieren und die Einhaltung von Regeln durchzusetzen, die nicht nur unserem Schutz, sondern auch der Sicherung unserer Macht dienen. Wir dürfen nicht zulassen, dass irgendein dahergelaufener Unsterblicher mit seinem Menschenliebchen alles infrage stellt, was wir uns so mühsam aufgebaut haben. Egal ob Leilas Mutter nun ein Mensch ist oder nicht, ich bin auf jedem Fall dagegen, dass sie in der Gemeinschaft aufgenommen wird.“ Er blickte in die Runde der Ältesten. „Seid ihr der gleichen Meinung wie ich?“
Nahum erhob sich, beugte sich vor und stützte sich auf dem Tisch ab. „Setz dich, Ernesto!“
Ernesto folgte dem Befehl, doch sein Gesicht zeigte deutlich, wie sehr es ihm widerstrebte.
„Auf Ernestos ausdrücklichen Wunsch“, fuhr Nahum fort. „Soll jedes hier anwesende Mitglied des Ältestenrats seine Meinung zu dieser Angelegenheit kundtun. Blanche. Möchtest du beginnen?“
„Ich plädiere dafür, dass Leilas Eltern sich unserer Gerichtsbarkeit stellen. Eine Entscheidung darüber, ob ihre Mutter in unsere Gemeinschaft aufgenommen wird oder nicht, kann ich erst treffen, wenn ich sie angehört habe“, sagte Blanche.
Nahum nickte und sah zu Mary.
„Eine Hartnäckigkeit, wie sie Marcus del Casals zeigt, beeindruckt mich. Außerdem hat er unsere Gemeinschaft um ein wertvolles Mitglied bereichert. Sollte Leilas Mutter also tatsächlich eine Unsterbliche geworden sein, habe ich nichts dagegen, wenn sie in die Gemeinschaft aufgenommen wird.“
Ernesto gab einen protestierenden Laut von sich, doch Mary bedeutete ihm, zu schweigen. „Es macht nicht immer Sinn, die Regeln aufs Genauste zu befolgen, Ernesto. Wir sollten hin und wieder in der Lage sein, von unseren starren Prinzipien abzuweichen. Allerdings halte ich es in diesem speziellen Fall für angemessen, einen Initiationsritus durchzuführen.“
„Das ist ein guter Vorschlag“, stimmte Nahum zu. „Elias, Corinne, was ist eure Meinung?“, fragte Nahum die beiden Unsterblichen, die gemeinsam mit ihm den Raum betreten hatten.
„Ich stimme Mary zu“, verkündete Elias. „Eine Ausnahme wird nicht gleich unsere Gemeinschaft zerstören.“
„Ich schließe mich dem an“, fügte Corinne hinzu.
Nahums Blick wanderte nun zu Daniel und Claude. Claude schloss sich Ernestos Meinung an, Daniel nach kurzem Zögern ebenfalls. „Ich muss Blanche, Ernesto und Claude zustimmen“, sagte er „Wir sollten unsere Gesetze nicht so leichtfertig außer Kraft setzen. Wenn wir eine Ausnahme machen, werden weitere folgen, und ehe wir uns versehen, zerfällt unsere Gemeinschaft und wir fallen ins finstere Mittelalter zurück.“
„Dann steht es unentschieden“, stellte Nahum fest. „Leila. Würdest du bitte deine Eltern anrufen und sie darum bitten,
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