Das Blut der Unsterblichen
altes Foto von einem Mann, der zwar denselben Namen trug und eine gewisse Ähnlichkeit mit Marcus hatte, war alles andere als eine heiße Spur. Stattessen begann sie, nach dem Cypress Hills National Friedhof zu suchen. Sie fand einen Eintrag bei Wikipedia und die Webseite des Friedhofs. Eine Zeit lang studierte sie die Angebote und Informationen der Friedhofsverwaltung, jedoch ohne etwas Brauchbares herauszufinden. Sie überlegte gerade, eine Anfrage per Email zu senden, als das Telefon klingelte. Erschrocken hob sie ab.
„Hallo?“ Keine Antwort. „Hallo? Leila?“
Die Leitung blieb still.
„Leila?“, versuchte sie es erneut.
Noch immer kam keine Antwort. Sie legte auf. Derartige Anrufe hatte sie in den letzten Jahren regelmäßig gehabt und immer wieder fragte sie sich, wer das war oder woran es liegen mochte, dass niemals jemand antwortete. Tanias Mann, der für die Telefongesellschaft arbeitete, mutmaßte, es läge an den alten Leitungen. Da keine Telefonnummer angezeigt wurde, konnte sie leider auch nie die Rückruffunktion nutzen.
Ein mulmiges Gefühl kroch ihren Rücken hinauf, das Gefühl beobachtet zu werden. Schnell lief sie zum Fenster und ließ den Rollladen herunter. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich beobachtet fühlte. Auch beim Einkaufen oder Joggen hatte sie schon ganz plötzlich dieses Gefühl überfallen. Wenn sie dann auch noch diese seltsamen Anrufe erhielt, bekam sie regelrecht Angst. Immerhin lebte sie alleine mit ihrer Tochter am Waldrand.
Als das Telefon erneut klingelte, blickte sie zuerst auf das Display und hob dann den Hörer ab. Es war Leila. Der Kinofilm war zu Ende und sie wollte abgeholt werden. Kristina versuchte, aus dem Klang ihrer Stimme herauszuhören, wie der Abend verlaufen war, doch konnte sie dem kurzen Telefonat nichts Aufschlussreiches entnehmen.
Schnell streifte sie Schuhe und Jacke über, schnappte den Autoschlüssel und fuhr los.
Nico verabschiedete sich mit dem Versprechen, am nächsten Tag anzurufen. Leila blickte ihm lächelnd nach, während er zur Haustür schlenderte. Nicos Mutter reckte den Kopf aus dem Fenster im zweiten Stock des Mehrfamilienhauses, in dem er wohnte, und spähte neugierig nach unten.
Leila winkte ihr gut gelaunt zu. Der Kinobesuch war super gelaufen. Nico hatte ihre Hand gehalten und ihr immer wieder verliebte Seitenblicke zugeworfen, was sie mit einem schüchternen Lächeln zur Kenntnis genommen hatte.
Da sie den Fragen ihrer Mutter entkommen wollte, schob sie eine plötzliche Müdigkeit vor, um schnellstmöglich in ihr Zimmer verschwinden zu können. Sie sah die Enttäuschung in Kristinas Gesicht, doch war ihr das im Moment egal. Sie wollte alleine sein, mit sich und ihren Gedanken. Mit einem kurzen „ich bin müde und geh’ gleich schlafen. Gute Nacht, Mama“, rannte sie die Treppe hinauf und bemerkte ganz nebenbei, mit welcher Leichtigkeit sie mehrere Stufen auf einmal nahm.
Unwillkürlich dachte sie an die Party bei Silvia zurück. Die Sache mit Oliver war nicht einfach nur ein Adrenalinstoß gewesen. Sie hatte Stärke in sich gespürt. Eine unerklärliche Schärfung ihrer Sinne. Olivers Faust war wie in Zeitlupe auf sie zugeflogen, als hätte sich alles um sie herum langsamer bewegt. Alle Geräusche waren in unglaublicher Schärfe und Klarheit an ihr Ohr gedrungen.
Später hatte sich ihr Zustand glücklicherweise wieder normalisiert. Diese Schnelligkeit und die Klarheit waren zwar nicht unangenehm gewesen, aber eben nicht normal für eine durchschnittliche Sechzehnjährige. Wieder drängte sich ihr die Frage auf: War sie ein Freak?
Sie schüttelte den Kopf und beschloss, nicht länger darüber nachzudenken. Sie war kein Freak, sie hatte eben nur gewisse Talente. Und jetzt auch einen festen Freund , dachte sie lächelnd. Nico, ihr fester Freund. Bei diesem Gedanken musste sie kichern. Es war nicht das Schlechteste, verliebt zu sein, ganz und gar nicht!
13
Leila verabredete sich fortan regelmäßig mit Nico. In den Pausen schlenderten sie Hand in Hand über den Schulhof und so oft es möglich war, trafen sie sich auch außerhalb der Schule.
Noch immer litt sie unter Albträumen. Meistens blieben sie erträglich, doch immer handelten sie von Blut, Tod und ihrem Vater. Immer wieder träumte sie, dass er lebte, und fast jedes Mal versuchte er, ihr oder ihrer Mutter mit krallenbewehrten Klauen die Kehle aufzuschlitzen. Leila fragte sich ernsthaft, ob ihr Vater ein Mörder gewesen war oder ob er eines Tages
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