Das Blut des Adlers 2 - Licht über weissen Felsen
zu Grabe getragen wurde, leuchtete die Sonne mild. Die Wärme quälte nicht mehr, sie löste die matten Halme und Blütenblätter, so daß sie in der Luft schwebten und langsam zur bergenden Erde gehen konnten, die nach einem langen Winter neues Leben aus ihnen schaffen würde. Alle trugen Kummer um Untschida, doch fühlte sich niemand zerrissen und gebeugt. Es war, als sei ihre stille und bescheidene Kraft frei geworden, bereit, in einen jeden einzelnen unvermindert hineinzugehen.
Von solchen inneren Frieden gekräftigt und mit der jungen Freude auf neue Tage war Wakiya-knaskiya am folgenden Morgen als erster in dem Zelt erwacht, in dem noch einmal alle gemeinsam geschlafen hatten. Er ging nicht in das Blockhaus, um sich zu waschen, sondern lief hinaus auf die Wiesen, den Hang hinauf. Im Korral und in den Boxen stampften die Pferde, sie galoppierten und stiegen, als sie den Jungen sahen, denn jedes hoffte, daß Wakiya komme, um es auf die Weide zu treiben oder zu reiten. Auf der anderen Talseite brüllte der Büffelstier und begrüßte die Sonne. Sie war nach der Septembernacht schon wieder auferstanden, hellrot, mit frischer Kraft. Ihre Strahlen glitten hinüber zu den weißen Felsen, an deren Fuß die Büffelherde weidete. Wakiya-knaskiya schaute über die weite Prärie, über Tal und Berg, die seine Heimat waren. Er lief hinauf zu dem Tiefbrunnen und wusch sich dort. Das gefiel ihm besser als das Waschen im Hause, in dem sich viele Leute um das eine Becken drängen mußten; Tashina, Hanska und die Zwillinge.
Das Wasser perlte, die Wiesen grünten in der Feuchtigkeit des von der Höhe herabsickernden Brunnenwassers. Die King-Ranch war ein saftiggrüner Fleck im endlosen, gelben, dürren Land.
Wakiya war stolz, daß er dazugehörte. Drüben, wo die Büffel weideten, grunzten jetzt auch schon die Schweine, die Mary aus dem Stall auf die Wiesen ließ. Bob knallte mit der Peitsche wie ein erfahrener Cowboy.
Es gab zum Frühstück nicht nur Brot, sondern auch etwas Schinken, denn Tashina wollte dem ersten Tag, an dem Wakiya und Hanska gemeinsam zur Schule gehen konnten, das Ansehen eines Festtages geben. Die Brüder sattelten ihre Pferde. Sie würden nicht nur bis zu der Bushaltestelle reiten, von der die Pferde hätten zurückgebracht werden müssen, sondern bis zur Schule. Lehrer Ball hatte eine Möglichkeit ausfindig gemacht, die Pferde den Tag über gut unterzubringen.
Hanska auf seinem Pony ritt besser, das mußte sich Wakiya eingestehen. Hanska wollte ja ein Cowboy und ein Rancher werden und am Rodeo teilnehmen. Auch ein künftiger Rechtsanwalt wie Wakiya mußte reiten und fahren können, aber er brauchte es nicht so gut zu können wie Inya-he-yukan und Hanska. Wakiya war nicht eifersüchtig.
Er hätte dazu gar keine Zeit und keinerlei Raum in seinem Herzen gehabt, denn er mußte daran denken, daß heute der erste Schultag nach den langen Ferien war und daß er eine Klasse überspringen durfte. Wakiya wurde von der fünften in die siebente Klasse versetzt. Susanne und David würde er dort nicht treffen, denn sie waren schon in das Schulinternat außerhalb der Reservation aufgenommen worden. Es würde alles unbekannt und ganz neu in dieser Klasse sein.
Eben darum war es nicht verwunderlich, sondern es erschien Wakiya-knaskiya durchaus natürlich und wie erwartet, daß er in der Stunde des Englischunterrichts eine Entdeckung machte. Schräg vor ihm saß ein Mädchen, das er noch nie gesehen zu haben glaubte.
Er täuschte sich. Oft schon war dieses Mädchen zur gleichen Zeit wie er über den großen freien Platz vor dem Schulgebäude gelaufen, oft schon hatte sie zur gleichen Zeit wie Wakiya im Speisesaal der Schüler gesessen und gegessen, wenn auch an einem andern Tisch. Aber Wakiya war ihr immer nur mit seinen äußeren Augen begegnet. Er hätte, wenn er befragt wurde, bis zu diesem Tage nicht sagen können, daß sich unter den Mädchen, die nun in die siebente Klasse versetzt worden waren, eines befand, das sanft blickte wie der Mond, schmal war wie ein Gras, das sich im Winde wiegt, und still wie die Nacht, wenn das Zirpen der Grillen verstummt ist. Er kannte auch ihren Namen nicht. Seine inneren Augen hatten dieses Mädchen noch nicht entdeckt.
Aber nun, da sie am ersten Schultag in der siebenten Klasse schräg vor ihm saß, sah er sie. Es war im Englischunterricht, den Mr. Ball in dieser Klasse erteilte. Englisch war für die Dreizehnjährigen noch immer eine Fremdsprache, mit der sie Mühe hatten.
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