Das Blut des Teufels
einmal in diese Richtung, dann in die andere, und untersuchte es.
Während sie das Relikt studierte, überlegte Henry laut. »Es ist ganz bestimmt das Werk eines spanischen Handwerkers. Nicht der Inka. Wenn wir bestätigen können, dass das Kreuz aus dem gleichen Amalgam besteht, dann wissen wir sicher, dass die Spanier die Substanz in die neue Welt mitgebracht haben, und nicht anders herum …«
Er redete weiter, aber etwas hatte Joans Aufmerksamkeit erregt. Unter den Fingern spürte sie kleine Kratzer auf der Rückseite des Kruzifixes. Sie holte ihre Lesebrille aus einer Tasche, setzte sie auf, drehte das Kreuz herum und musterte es mit zusammengekniffenen Augen. Es war nicht die Signatur des Künstlers oder eine archaische Inschrift, sondern mehrere Reihen feiner Markierungen. Sie bedeckten die gesamte Oberfläche der Rückseite des Kreuzes.
»Was ist das?«, fragte Joan.
Er trat näher. Jetzt standen sie Schulter an Schulter. Joan fiel der schwache Geruch auf, eine Mischung aus Aftershave und einem reicheren Duft. Sie versuchte, ihn zu ignorieren.
»Wovon redest du?«, fragte er.
»Hier.« Sie zeigte mit einem Fingernagel auf die Kerben.
»Ah, ja, die sind mir auch schon aufgefallen. Ich halte sie schlicht für Kratzer. Da hat sich das Gold über die Jahre hinweg an der rauen Kutte des Mönchs abgerieben.«
»Mmm, vielleicht … aber sie sehen zu symmetrisch aus und einige der Kerben sind ziemlich tief und unregelmäßig.« Sie beugte sich ein wenig weiter herab. Sie standen jetzt so dicht beieinander, dass ihr Henrys Atem über die Wange strich und er ihr tief in die Augen schaute.
»Was meinst du also?«
Kopfschüttelnd trat sie zurück. »Weiß nicht. Ich möchte mir das gern näher ansehen.«
»Wie?«
Joan führte ihn um den Tisch herum, auf dem verschiedene Mikroskope standen. Sie ging zu einem sperrigen Gerät mit einem großen, gläsernen Objektträger darunter. »Ein Seziermikroskop. Normalerweise untersuche ich damit große Gewebeteile.«
Sie legte das Kreuz mit der Rückseite nach oben auf den Träger und schaltete die Lichtquelle ein. Von oben beleuchtet, erstrahlte das Gold in einem inneren Feuer. Joan stellte die Lichtquelle so ein, dass der Schein schräg über das Kruzifix fiel. Sie beugte sich über das Okular und führte die Feinjustierungen der Linsen durch. In der schwachen Vergrößerung erfüllte das Kreuz das gesamte Blickfeld. Die Kerben traten als deutliche Reliefs hervor und wirkten wie tiefe Klüfte im Metall, lange, präzise und gleichförmige Täler. Die Kratzer bildeten eine Reihe immer wiederkehrender winziger Zeichen: grobe Quadrate, unvollkommene Kreise, horizontale und vertikale Schnörkel, zerhackte Symbole und ineinander geschobene Ovale.
»Sieh dir das an!«, meinte Joan und trat beiseite.
Henry beugte sich über das Mikroskop. Einige Augenblicke lang starrte er schweigend hinein, dann stieß er ein leises Pfeifen aus. »Du hast Recht. Das sind keine zufällig entstandenen Kratzer.« Er schoss einen Blick zu ihr hinüber. »In einigen der Vertiefungen scheint mir sogar Silber eingebettet zu sein. Vielleicht Spuren des Werkzeugs, mit dem diese Kerben eingekratzt worden sind.«
»Es muss einen sehr guten Grund geben, dass jemand eine so mühsame Arbeit auf sich nimmt.«
»Aber welchen?« Henrys Lippen wurden schmal, während er über dieses neue Geheimnis grübelte und er kniff leicht die Augen zusammen. Schließlich atmete er geräuschvoll aus. »Vielleicht ist es eine Botschaft. Aber wer weiß das schon genau? Möglicherweise bloß ein simples Gebet. Ein Segen.«
»Aber verschlüsselt? Und weshalb auf der Rückseite des Kreuzes? Es muss etwas mehr zu bedeuten haben.«
Henry zuckte mit den Schultern. »Wenn der Mönch die Gravuren während seiner Gefangenschaft eingeschnitten hat und damit eine Botschaft übermitteln wollte, hatte er vielleicht keine andere Möglichkeit, es geheim zu halten. Die Inka verehrten goldene Dinge. Wenn er das Kreuz bei seinem Tod auf dem Altar am Körper getragen hatte, hätten es die Inka dort gelassen.«
»Aber falls du Recht hast, für wen war seine Botschaft dann bestimmt?«
Langsam und mit nachdenklichem Blick schüttelte Henry den Kopf. »Die Antwort liegt möglicherweise in diesem Code.«
Joan kehrte zu ihrem Mikroskop zurück. Sie holte einen Zeichenblock und einen Stift aus einer Schublade und ließ sich dann so nieder, dass sie die Zeichen auf dem Papier kopieren konnte. »Probieren wir’s aus. Ich habe immer gern mit Kryptogrammen
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