Das Blut von Magenza
dunkle Augenringe noch die eingefallenen Wangen oder seine fahrigenBewegungen. Dieser Mann hat Schweres durchlebt, dachte er für sich. „Jetzt nimm erst einmal Platz und dann berichte mir ausführlich, was geschehen ist.“
Jonah setzte sich und begann: „Du hast von der Ausrufung der bewaffneten Pilgerfahrt ins Heilige Land gehört?“
Kalonymos nickte ernst.
„Grafen und Landesherren, aber auch einfaches Volk begannen sich kurz danach in Frankreich zu rüsten. Sie scharten und scharen sich immer noch um ihre Anführer, von denen mancher nur dem eigenen Gesetz folgt. Ihr Ziel ist Jerusalem und auf ihrem Weg dorthin hinterlassen sie eine blutige Spur. Aber überzeug’ dich selbst. Es steht alles in diesem Schreiben, verfasst von den Häuptern unserer Gemeinde. Es ist an dich und die Ältesten von Magenza gerichtet“, sagte er und hielt ihm den Brief hin.
Kalonymos nahm ihn entgegen und brach das Siegel, während Jonah weiterredete. „Ich kam, um euch zu warnen. Die selbsternannten Gotteskrieger sind Bauern, Tagelöhner, arbeitslose Handwerker und nicht nur arm, sondern auch dementsprechend ungebildet. Sie darben. Eure Gemeinde ist reich und unsere Ältesten fürchten, die Pilger werden den Rhein entlang über den Main die Donau hinauf ziehen und sich unterwegs das Geld nehmen, das sie für ihre Wallfahrt benötigen. Und es ist zu befürchten, dass sie es sich von uns Juden holen. In Rouen haben sie es jedenfalls getan und Magenza ist um etliches wohlhabender“, stieß er mit zittriger Stimme hervor.
Kalonymos hob die Hand und gab Jonah zu verstehen, dass er für den Moment schweigen solle. Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich, je länger er las. Er ließ das Schreiben sinken. „Das hier gibt tatsächlich Anlass zur Sorge“, meinte er mit belegter Stimme. „Ich kann es miraber immer noch nicht recht vorstellen.“
Jonah versuchte ihn zu überzeugen. „Sie erschlugen meinen Bruder. Ich entkam ihnen nur, weil ich mich im Keller eines Christenfreundes versteckte. Meine Mutter verlor ihren Lebensmut, unser Geschäft liegt in Trümmern und wir stehen kurz vor dem Ruin“, erwiderte er unter Tränen.
„Du erhältst von unserer Gemeinde Geld, damit du es wieder aufbauen kannst.“
„Ich werde das Darlehen gern in Anspruch nehmen, aber das ist nicht mein vordringliches Anliegen. Versteh doch, Kalonymos, ihr müsst handeln, und zwar so, wie es in dem Brief vorgeschlagen wird. Bringt euch und euer Kapital in Sicherheit!“, wiederholte Jonah eindringlicher.
Die Ereignisse von Rouen erschütterten den Gemeindevorsteher zwar, aber die nordfranzösische Stadt lag viele Meilen entfernt und es war daher nicht sicher, dass Magenza ihr Schicksal teilen würde. „Ist die Lage wirklich so ernst?“
„Ja“, gab Jonah unumwunden zu.
„Gut, ich werde für heute Mittag unseren Gemeindevorstand zusammenrufen, damit wir uns beraten. Gemeinsam soll entschieden werden, was zu tun ist. Ich will, dass du ihnen genau das erzählst, was du mir soeben berichtest hast.“
Jonah atmete erleichtert auf. Er hatte schon gefürchtet, Kalonymos würde ihn unverrichteter Dinge wegschicken. „Ich werde kommen.“
„Wir sehen uns dann nachher in der Synagoge“, verabschiedete ihn Kalonymos.
Jonah nutzte die Zeit, um in die Mikwe zu gehen, weniger um seinen Körper zu säubern, als vielmehr um seinen Geist zu reinigen. Er wollte die letzten Wochen, in denen er als getarnter Christ unterwegs gewesen war, abwaschenund sich so auf den Sabbat vorbereiten. Obwohl das Bad sich meist in Frauenhand befand, war es heute für wenige Stunden nur den Männern vorbehalten. Jonah zog sich aus und stieg nackt die wenigen Stufen in das Kaltwasserbecken hinunter, das von einer Quelle gespeist wurde. Nichts durfte zwischen seinem Körper und dem frischen Wasser sein. Er tauchte mehrmals unter und verließ seelisch und geistig gereinigt das Becken. Nachdem er trocken war, kleidete er sich wieder an und verließ das Gebäude. Ihm blieb sogar noch etwas Zeit, einen Geschäftspartner seines Vaters aufzusuchen, um ein kurzes Gespräch mit ihm über eine Lieferung von Gewürzen zu führen, die sie dringend benötigten.
Als er zu der verabredeten Stunde in die Synagoge kam, war der Rat bereits vollzählig versammelt. Kalonymos schien die Männer über den Grund von Jonahs Anwesenheit bereits unterrichtet zu haben, denn nach einer kurzen Begrüßung wurde ihm umgehend das Wort erteilt.
Jonah erklärte, dass ihn die Ältesten für diese
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