Das Blut von Magenza
„Inwiefern, Herr?“
„Warum kam mir nie der Gedanke an die Vertreibung Lucifers aus dem Paradies? Nun sehe ich klar. Auch ich soll den Satan vertreiben, genau wie Michael es tat, aber eben nicht aus dem Himmelreich, sondern von der Erde.“
„Wie meint Ihr das nun wieder?“
„Ich muss den Antichrist tilgen!“, ereiferte sich Emich und schwang die Beine vors Bett.
„Und wer ist der Antichrist?“
„Jeder, der das Blut unseres Herrn an seinen Händen kleben hat. Die Juden, sie schlugen Jesus ans Kreuz“, erregte sich Emich, dessen Stimme inzwischen so schrill war, dass sie in Albrechts Ohren schmerzte. „Ich bin auserkoren, den Herrn zu rächen und dafür zu sorgen, dass sein Todendlich gesühnt wird.“
„Wie wollt Ihr das denn bewerkstelligen?“
„Entweder sie bekennen sich zu dem einzig wahren Gott oder sie sterben durch mein Schwert. Ich überlasse ihnen die Entscheidung: Tod oder Taufe“, schrie er mit hochrotem Kopf.
Emich baute sich vor Albrecht auf und umklammerte mit beiden Händen ein unsichtbares Schwert, das er drohend über seinem Kopf schwang. So klapperdürr wie er war, wirkte er dabei eher lächerlich. Albrecht fürchtete schon, der letzte Anfall hätte die geistige Gesundheit seines Herrn beeinträchtigt, und redete deshalb beruhigend auf ihn ein. „Erst müsst Ihr zu Kräften kommen. So könnt Ihr nicht an der Pilgerfahrt teilnehmen. Das Fasten hat Euch geschwächt, Euer Körper besteht nur noch aus Haut und Knochen. Wahrscheinlich seid Ihr sogar zu schwach, um das Schwert zu führen und einen Schild zu halten!“
„Du redest wirr! Nie habe ich mich besser gefühlt.“
„Soeben konntet Ihr nicht aufstehen und auch jetzt wankt Ihr bedenklich. Ihr seid alles andere als kräftig“, bemerkte er nur.
Nach Atem ringend ließ Emich sich auf sein Bett sinken. Dabei fiel sein Blick auf seine mageren Beine und den eingefallenen Bauch. Albrecht hatte nicht unrecht. „Bring mir Wein und Fleisch und was wir sonst noch an Essbarem im Hause haben!“, befahl er und der Diener eilte geflissentlich davon.
Sonntag, 6. Januar 1096, 9. Schewat 4856
Mainz
Hanno begleitete den Kämmerer auf dessen Drängen hin zum Gottesdienst. Das monotone Gerede des Pfarrers, dem er nicht richtig folgen konnte, übte zu seiner Überraschung eine beruhigende Wirkung auf ihn aus. Er versank in sich selbst und begann seine Gedanken zu ordnen, die seit seiner Ankunft in Mainz drunter und drüber gingen. Embricho ließ ihn auf Anordnung des Arztes Tag und Nacht durch die Stadt streifen in der Hoffnung, dass er sich schnell wieder erinnerte, und Hanno nutzte diese Zeit auch ausgiebig. Stück für Stück eroberte er sich Mainz zurück und sah es mit den Augen eines Fremden. Dabei entdeckte er Winkel und Gebäude voller Schönheit, aber auch solche, die Abscheu in ihm hervorriefen. Am häufigsten zog es ihn hinauf zu St. Stephan, wo es ruhiger war als im Zentrum.
Manchmal fühlte er sich durch die Fülle der Eindrücke überfordert, die ständig auf ihn einprasselten und ihn durcheinanderbrachten. Immer wieder begegnete er Menschen, die ihn kannten, deren Gesichter ihm aber nichts sagten. Er wusste nicht, ob er sie gemocht hatte oder ob sie ihm gleichgültig oder gar unsympathisch gewesen waren. Er konnte sich einfach nicht erinnern und das machte ihn mürbe. Bald war er es leid, jedem von Neuem seine Geschichte erzählen zu müssen. Aber er prägte sich ihr Aussehen und die dazugehörigen Namen ein, damit sie ihm nicht länger fremd waren.
Hin und wieder kehrte ein kleiner Erinnerungsfetzen zurück. Manchmal konnte er ihn zuordnen, meist stürzte er ihn aber in Verwirrung. An bestimmten Tagen, an denen er glaubte, seine Vergangenheit für immer verloren zu haben, überfiel ihn die Verzweiflung. Doch es gab auch Grund zurHoffnung. Gerade jetzt fielen ihm zum Beispiel Teile eines Gesprächs ein, das er in einem Gasthaus oder einer Herberge geführt hatte. Viel war es nicht und er konnte die Orte auch nicht zuordnen, aber immerhin war es ein Ansatzpunkt. Sein Gefühl sagte ihm, dass es wichtig war, und er versuchte ,alles zu behalten. Aber er war noch längst nicht so weit, dem Kämmerer davon zu erzählen. Das würde nur falsche Erwartungen wecken. Er wollte damit warten, bis er sich wieder vollständig erinnerte.
Hanno ließ den Blick über die Köpfe der anderen Gläubigen wandern und erspähte Widukind. Mit einer Geste verständigten sie sich, dass sie nach der Messe miteinander reden wollten.
Der
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