Das Blut von Magenza
Knäuel vorbereiteter roher Wolle ruhte in ihrem Schoß. Sorgfältig öffnete sie die einzelnen Locken und zupfte Flusen heraus. Sie mochte diese Beschäftigung, sie gab ihr die Ruhe, die sie nach einem langen Tag benötigte. Ohne hinschauen zu müssen, drehte sie mit der Spindel die Fasern zu einem langen Faden. Aber heute verfehlte die Handarbeit ihre Wirkung, die erhoffte Muße stellte sich einfach nicht ein. Sie dachte an Gerhard, der ihr üblicherweise Gesellschaft leistete. Doch seit einigen Wochen ließ er sie allein und führte fadenscheinige Entschuldigungen für sein Fehlen an. Angeblich hielten ihn Amtsgeschäfte vom abendlichen Gedankenaustausch ab, aber Reinhedis glaubte, dass seine Abwesenheit einen anderen Grund haben könnte, nämlich Griseldis. An seiner Arbeit konnte es nicht liegen, denn es gab nicht mehr zu tun als sonst. Erst seit Griseldis in der Stadt lebte, fand er immer weniger Zeit für seine Frau.
Bei dem Gedanken an die junge Frau zog sich Reinhedis‘ Magen zusammen. Schon bei ihrer ersten Begegnung war sie ihr unsympathisch gewesen. Sie verhielt sich nicht wie eine anständige Frau, sondern kokettierte mit den Männern. Ihr waren keineswegs die Reaktionen der Anwesenden entgangen, als sie Griseldis sahen. Utz, Dithmar, Jörg und Wylhelm waren beinah die Augen aus dem Kopf gefallen, selbst Meister Bertolf hatte eine gewisse Regung erkennen lassen, auch wenn er ihr den Rest des Abends eher die kalte Schulter gezeigt hatte.
Warum sollte Gerhard gegen ihre Reize gefeit sein, wenn alle anderen Männer ihnen erlagen? Zwar hatte er ihr noch nie Anlass gegeben, an seiner ehelichen Treue zu zweifeln, aber die Versuchung war bisher auch noch nie so groß gewesen. Zudem war sie schwanger und kam sich weniger begehrenswert vor. Sie fürchtete, Gerhard könnte ebenso empfinden, anders ließ sich nicht erklären, warum er auf ihr gemeinsames Ritual verzichtete.
Sie versuchte, ihre Überlegungen in andere Bahnen zu lenken, aber es gelang ihr einfach nicht. Immer wieder kehrten sie zu Griseldis zurück, und je länger sie an sie dachte, umso mehr wuchs ihre Eifersucht. Reinhedis wusste um ihre Schwäche und schämte sich für sie. All die Jahre hatte sie ihre Untugend vor Gerhard verbergen können, doch Griseldis‘ Erscheinen hatte sie wie eine schwärende Wunde aufbrechen lassen. Wie lange konnte sie ihre wahren Empfindungen noch vor ihm verheimlichen? Sie kannte sich gut genug um zu wissen, dass die Eifersucht erst verschwinden würde, wenn sie Klarheit besaß. Nur, wie sollte sie diese bekommen? Ihren Mann bespitzeln? Ein solches Verhalten war einer Burgherrin unwürdig und sie hatte auch keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte, ohne dass Gerhard Verdacht schöpfte.
Aber diese Ungewissheit nagte an ihr und würde sie früher oder später verrückt machen. Sie wollte an etwas anderes denken, aber es gelang ihr nicht. Überhaupt kam ihr Griseldis seltsam vor. Ihr ganzer Lebensstil sorgte unter den Bürgern für Aufsehen, um das sie sich allerdings keinen Deut scherte. Reinhedis wunderte sich, wieso Gerhard das tolerierte, denn normalerweise duldete er solche Zustände nicht. Auch die Behauptung, sie komme vom kaiserlichen Hof, erschien ihr fragwürdig. Sie mochte stimmenoder auch nicht. Möglicherweise hatte sie einen Bruder, vielleicht aber auch nicht. Reinhedis wollte herausfinden, inwieweit die junge Frau die Wahrheit sagte. Erst wenn sie alles über sie wusste und sicher war, dass es zwischen ihr und Gerhard keine Beziehung gab, würde sie wieder Ruhe haben.
Dabei hoffte sie auf die Hilfe ihres Cousins Guntram. Seit Kindertagen verband ihn und Reinhedis eine Freundschaft, die im Erwachsenenalter nicht abgerissen war. Er war ein Ritter des Kaisers und begleitete ihn beinah überall hin. Wenn Heinrich einmal nach Mainz kam, besuchte Guntram sie immer. Sie sahen sich zwar nur selten, aber sie schrieben sich ab und zu. Reinhedis beschloss, gleich morgen früh einen Brief an ihn zu schicken, in dem sie sich nach Griseldis erkundigte. Diese Vorstellung besänftigte sie etwas und sie legte die Wolle beiseite. In diesem Moment öffnete sich die Tür und Gerhard trat ein. Er kam auf sie zu und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange. Dabei fiel sein Blick auf ihre Hände.
Erschrocken hielt er inne. „Was ist geschehen? Schau dir die Wolle an, sie ist voller Blut.“
Reinhedis hatte nicht bemerkt, wie sie sich in ihrer Eifersucht die Finger blutig gesponnen hatte. Rasch wiegelte sie ab.
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