Das Blut von Magenza
sich gelegt. Er schrak auch nicht mehr bei jedem Geräusch zusammen und selbst die Dunkelheit war weniger bedrohlich, obwohl er immer noch nicht ohne Licht einschlafen konnte. Die Dämonen schienen für den Augenblick gebannt.
Nun lag eine gut zu überschauende, menschenleere Ebene vor ihm. So weit das Auge reichte, sah er nur Felder, Wiesen und gelegentlich Hecken, die als Windschutz dienten. Auf einigen Äckern keimten die zarten Sprossedes Wintergetreides, während die anderen brachlagen, um im Frühjahr bestellt zu werden. Die Ruhe der Landschaft übertrug sich auf ihn und er setzte zuversichtlich seinen Weg fort. Am Stand der Sonne bestimmte er, wo Osten lag, und schlug dann diese Richtung ein. Die Orientierung im Wald war schwierig gewesen und er hatte keine genaue Vorstellung davon, wo er sich gerade befand. Aber wenn er nicht zu weit von seiner Route abgekommen war, musste er bald Reims erreichen. Und tatsächlich tauchten gegen Nachmittag die ersten Häuser am Horizont auf. Bei ihrem Anblick atmete er erleichtert auf. Wenn jetzt nichts mehr dazwischenkam, passierte er in wenigen Tagen die Grenze.
Obwohl der Anlass seiner Reise kein freudiger war, freute er sich auf Magenza. Mit der Stadt verband er viele gute Erinnerungen. Seine Studienzeit an der dortigen Jeschiwa war lehrreich gewesen und die geschlossenen Freundschaften überdauerten die Jahre. Eigentlich hatte er schon längst einmal zurückkehren wollen, aber nie die Zeit dafür gefunden.
Jonah dachte an Kalonymos ben Meschullam, den Ehrfurcht gebietenden, von allen geschätzten Parnass, der die Gemeinde mit fester Hand führte und von dem er viel gelernt hatte. Kalonymos konnte sich auf eine Reihe berühmter Ahnen berufen, die von Lucca aus an den Rhein gezogen waren. Einer seiner bekanntesten Vorfahren war Mose gewesen, der die liturgische Dichtung nach palästinensisch-jüdischer Tradition, den Pijut, mit in die Diaspora brachte.
Überhaupt konnte die Gemeinde Magenzas auf eine Reihe bedeutender Männer zurückblicken. Allen voran Gerschom ben Jehuda, ein Sohn der Stadt und ein überaus einflussreicher Gelehrter. Er hatte die Jeschiwa gegründet.In seinen Takkanot gab er seinen Mitbrüdern Hilfestellung, wie sie ihr Leben fernab der Heimat in Einklang mit der abendländischen Lebensart bringen konnten. Seine Gutachten, die sogenannten Responsen, waren überall anerkannt. Er hatte das Briefgeheimnis eingeführt, die Vielehe verboten und die Scheidung neu geregelt. Seitdem durfte ohne Einwilligung der Frau keine Verbindung mehr gelöst werden. Bis heute besaßen diese Regeln ihre Gültigkeit. Man bezeichnete ihn deshalb als Meor ha-Gola, die „Leuchte des Exils“.
Und nicht zu vergessen Raschi! Er war ein Schüler Gerschoms gewesen, der den Ruhm Magenzas vergrößert hatte. Unter dessen Namen verfasste Raschi unter anderem den Erlass gegen Wucher, der es einem Juden verbot, unrechtmäßig hohen Zins zu erheben.
Dank dieser Männer war die Gemeinde zu einem Zentrum der Spiritualität und des jüdischen Wissens geworden. Nach wie vor pflegte man den Disput und suchte nach Lösungen für die Zukunft. Magenza galt als weltoffen und Jonah bezweifelte nicht, dass Kalonymos und der Rat der Gemeinde die Mahnung ihrer Mitbrüder aus Rouen ernst nehmen würden. Hoffnungsvoll gab er seinem Ross die Sporen und setzte seinen Weg fort.
Montag, 24. Dezember 1095, 25. Tewet 4856
Mainz
Der Himmel über der Stadt war bleigrau. Windböen peitschten die Wolken vor sich her, die so tief hingen, dass sie beinah die Spitze des Doms zu berühren schienen. Alles was nicht niet- und nagelfest war, wurde durcheinandergewirbelt. Nieselregen machte den Boden schlüpfrig und kroch durch die Kleidung der Menschen bis in ihr Mark. Feuchtigkeit waberte über die Ufer des Rheins, überwand die Mauern und drang unaufhaltsam in die Stadt ein. Das triste Wetter trübte die Gemüter und ließ keine rechte Feiertagsstimmung aufkommen.
Dennoch trafen die Bürger ihre Vorbereitungen für die anstehenden Festtage. Die Fuhrleute lieferten ihre letzten Ladungen aus und verstopften mit ihren Karren die Gassen. Derbe Beschimpfungen flogen von Fuhrwerk zu Fuhrwerk, wenn es kein Durchkommen gab und Verzögerungen in Kauf genommen werden mussten. Auf dem Fluss reihte sich Boot an Boot und die Fähren pendelten unaufhörlich von einem Ufer zum anderen, um letzte Fahrgäste, Waren und Vieh in die Stadt zu bringen. Sie waren die einzige Verbindung über den Rhein, seit vor gut 200 Jahren die
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