Das Blutbuchenfest
Hummerschwanz auf einem Klecks weißer Polenta, ein Blättlein Rucola – Wereschnikow fragte sich nur, warum das von allem nur so wenig sein müsse, da drang die gutgelaunte Frage des Mannes in sein Ohr: »Fabelhaft! Machen Sie mit?« Und als Wereschnikow überwältigt nickte, kam gleich die zweite Frage: »Wir trinken doch eine Flasche – machen Sie mit?« Der Mann nötigte ihn vor Zeugen zu einer eindeutigen Willenserklärung – »Machen Sie mit?« –, damit war er womöglich eine Verpflichtung weitreichender Art eingegangen. Es war in einer solchen Lage immer wieder dasselbe: Bestellte er so wenig, wie er ohne innere Kämpfe eben noch bezahlen wollte, wirkte es, wenn man nicht eingeladen war, kümmerlich sparsam, war man aber eingeladen, so hatte man das Budget nicht ausgeschöpft und war der Dumme. Bestellte man reichlich und ließ sich von den guten Sachen verführen, saß man, uneingeladen zum Schluß, auf einer dicken Rechnung, hatte aber im Fall einer Einladung womöglich das Gastrecht mißbraucht und zu gierig zugegriffen. Fallstricke überall. Draußen überquerten Leute die Straße, als die Fußgängerampel auf Grün stand, plauderten, eilten sich nicht, waren mit sich im reinen, genossen die Mittagspause, strebten einem Imbißstand entgegen, wo sie ein Würstchen essen würden – glückliche Menschen, glückliches leichtes Leben. Wie gern hätte Sascha Wereschnikow jetzt mit einem von diesen draußen getauscht.
»Mit der Wurst nach dem Schinken werfen«, so heißt die Redensart, die einen großen Einsatz um eines höheren Gewinns bezeichnet. Schön – aber wenn der Mann nun nichts herausrückte? Gar nichts zur Verfügung hatte? Schwierig wurde? Hätte er doch nur hinter die glatte Stirn sehen können – solch ein Mann hatte auch mit Sechzig noch die Stirn eines unternehmungslustigen Knaben, vom Ernst des Lebens ungeritzt und undurchfurcht. Wereschnikow sprach inzwischen schon länger über das große Projekt, diese unter seiner Leitung stattfinden sollende Konferenz über die Würde im Blick der verschiedenen Balkankulturen. Er war beredt. Er kannte sein Thema längst auswendig, aber er war nicht mit dem Herzen dabei, er stand geradezu neben sich und suchte nur immer in der satten und genießerischen Miene des Mannes nach der Wahrheit: Wann verriete er sich? Wann kam heraus, wie er es mit der Rechnung halten würde? Was die innere Anspannung anging, war es Wereschnikow inzwischen beinahe gleich, ob der Mann ihm Zugriff auf die Stiftungsmittel eröffnete – was würde er tun, wenn unwiderruflich die letzte Tasse Espresso, der letzte Digestif getrunken waren und sich mit jeder dieser letzten Ausläufer des Business Lunchs die Rechnung vergrößert hätte? Plötzlich wurde ihm klar, daß er den verwöhnten, ihm nicht sehr hingerissen lauschenden Stiftungsmann aus ganzem Herzen haßte. Dieser Mann aß und trank, als sei es sein gutes Recht. Für diesen Mann war es eine nette Abwechslung, einmal mit einer Persönlichkeit wie Wereschnikow zusammenzusitzen, um sich völlig unverbindlich dessen großes Projekt, dieses Vorhaben von der höchsten Brisanz zum Amüsement anzuhören.
Da wurde es Wereschnikow doch zu bunt. Er unterbrach seine Rede und sagte plötzlich mit bitterer Emphase, überraschenderweise französisch: »Moi, moi, moi – das ist heute die einzige Religion, der einzige Glaube! Immer nur ich, ich, ich …«
Der Mann stutzte und zog die Augenbrauen hoch: »Ich verstehe Sie nicht recht?« Da war der Kontrollverlust zum Glück schon wieder überwunden. Wereschnikow hatte sich wieder im Griff. Das besessene Kreisen seiner Gedanken um die Rechnung war vorbei. Es gelang ihm, seinen Ausbruch vergessen zu machen und endlich mit ganzer Geistesgegenwart seine Sache zu vertreten.
»Gerade wegen des allgemeinen Egoismus ist es wichtig, wieder über die Würde nachzudenken …«
»Gewiß«, sagte der Mann. Er dachte dabei sichtbar: »Komischer Vogel«, schien aber nicht unangenehm berührt, und später sah man Wereschnikow so gelöst und selbstverständlich wie alle anderen Passanten draußen die Straße überqueren. Der Druck war von ihm abgefallen. Er trollte sich zufrieden nach Hause. Es war »ein gutes Gespräch«, er hatte »gearbeitet«, ein wundervolles, Zufriedenheit schenkendes Wort. Er war ein würdiges Mitglied der am sausenden Webstuhl der Zeit schaffenden Geister – apropos Würde, auf dem Balkan war sie gelegentlich in Gefahr, aber heute mittag hätte er gut Maruscha
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